Radikal führen
menschliche Urteilsvermögen kann die Besonderheit jedes Einzelfalls erfassen. Ein gutes Urteilsvermögen beruht auf der Grundlage von Balance-Empfinden, von Maß und Mitte, von Gelassenheit, gesunder Distanz und der Leidenschaft des Ausgleichs.
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Vierte Kernaufgabe:
Zukunftsfähigkeit sichern
Allgemeines
»Warum soll ich mich mit der Zukunft beschäftigen? Die Gegenwart ist herausfordernd genug!« So mag manche Führungskraft denken. Aber lauschen wir für einen Augenblick Peter Brabeck-Letmathe, Chairman von Nestle: »Es geht nicht darum, nachzudenken, was uns bisher erfolgreich gemacht hat, es geht primär um die Frage, was wir tun müssen, damit wir auch in der Zukunft erfolgreich sind. (...) Das ist die vielleicht schwierigste Aufgabe in einem Unternehmen überhaupt – insbesondere, wenn es bereits erfolgreich ist.«
Diese Aufgabe zu meistern heißt nicht, in dandyhafter Manier das Herkommen willentlich zu entwurzeln, sondern, ganz im Gegenteil, das Herkommen zu bewahren, indem man es zukunftsfähig macht. So wie es Gustav Mahler formulierte: »Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers.« Anders gesagt: Wie können Sie in Ihrem Unternehmen den Gründergeist lebendig halten? Wie machen Sie aus Ihrem Unternehmen eine Wanderdüne stetiger Selbsterneuerung?
Wir Reaktionäre
In einem Experiment von 1989 schenkte der US-Ökonom Jack Knetsch Studenten einen Kaffeebecher. Danach fragte er sie, ob sie bereit wären, den Becher gegen einen Schokoriegel zu tauschen. 90 Prozent der Studenten behielten den Becher. Einer anderen Studentengruppe gab er zuerst einen Schokoriegel. Danach fragte er sie, ob sie bereit wären, den Riegel gegen einen Kaffeebecher zu tauschen. Die Reaktion war spiegelbildlich: 90 Prozent der Studenten behielten den Schokoriegel.
Ein verblüffendes Ergebnis. Es gibt aber eine Erklärung, die Sie sicher selbst auch kennen: Wir überschätzen das, was wir besitzen (und gegebenenfalls verlieren könnten); und wir unterschätzen das, was wir gewinnen könnten. Die Alltagsintuition sagt dazu: »Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach.« Oder therapeutischer: »Lieber das bekannte Unglück als das unbekannte Glück.«
Gerade in seinen persönlichen Lebensumständen scheint der Mensch ein Reaktionär zu sein, den jede Veränderung schreckt, sogar eine neue Zahnbürste. Insofern gleichen wir kleinen Kindern, denen ja auch die Wiederholung des Immergleichen Sicherheit gibt. Denn Vertrauen und Verhaltenssicherheit gewinnen wir auf der Basis von Konventionen, die den Charakter des Selbstverständlichen tragen und große Beharrlichkeit aufweisen. Neue Erfahrungen versuchen wir zunächst den vertrauten Mustern anzupassen und erweitern diese nur, wenn es gar nicht anders geht. Das Grundgefühl: »Ich bin damit bisher gut gefahren, warum sollte ich damit nicht auch in Zukunft erfolgreich sein?« Niemand tut sichleicht mit Umstellungen. Sie sind uns in der Regel nur sympathisch, wenn sie andere betreffen.
Routinen und Muster sind also feste Bestandteile unseres Lebens. Manche davon sind angeboren. Mit Überraschungen zu rechnen, ja sie nur für möglich zu halten, fällt uns schwer; unser Gehirn ist das eines Jägers und Sammlers – es geht von Linearitäten und Mittelwerten aus. Manche Muster haben sich aber auch entwickelt: Es gibt Untersuchungen, die nachweisen, dass die Verhaltensweisen von Paaren, die frisch zusammengezogen sind, sich innerhalb von wenigen Wochen zu 95 Prozent routinisieren. Alles soll dann so bleiben, wie es ist, in ihrem Gehäuse der Ordnung verwirklichen sie ihren Wunsch nach Stetigkeit. Das mag erschrecken, aber dieser konservative Grundzug der Lebensbewältigung ist eine bewährte Form der Komplexitätsreduktion. Jedes lebende System müsste kollabieren, wollte es bei jeder neuen Information gewissermaßen wieder von vorne anfangen.
So glaubt irgendwann die Gans, die täglich vom Menschen gefüttert wird, der Mensch sei ihr in Liebe zugetan – bis sie zu Weihnachten geschlachtet wird. Der Investmentfonds, der über viele Jahre zugelegt hat, verweist auf seine blendende Performance in der Vergangenheit, um frisches Kapital anzulocken – bis er eines Tages abschmiert. Viele Kreditgeber in den USA konnten sich gar nicht vorstellen, dass die Immobilienpreise fallen könnten – sie waren dreißig Jahre lang gestiegen. Und ein CEO, der viele Quartale steigende Ergebnisse verkünden darf, hält sich irgendwann
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