Radikal führen
hohen Selbstveränderungspotenzial überleben. Dem Zufall eine Chance geben, die starren Strukturen verflüssigen, das Aus- und Abgebremste wieder in Bewegung bringen – das ist eine Kernaufgabe der Führung.
Experimentieren Sie zunächst gedanklich. Um nur ein Beispiel zu nennen: Nehmen Sie einfach einmal an, dass nahezu alle Ihre Mitarbeiter vertrauenswürdig sind und mit vollem Einsatz für das Wohl des Unternehmens arbeiten. Und nun fragen Sie sich, auf welche Kontrollinstrumente Sie dann verzichten könnten. Sie kommen sicher auf etliche misstrauensbasierte Praktiken, deren Sicherheit versprechender Effekt in keinem Verhältnis zur demotivierenden Wirkung steht. Zukunftsfähigkeit lässt sich nicht kontrollierend und steuernd erreichen, sondern wird gerade durch Kontrolle und Steuerung behindert – durch Management eben. Wenn alles getan wird, um den Zufall auszuschalten, dann erkennt man auch nicht, wenn sich eine Marktchance eröffnet.
Fragen Sie dann weiter: Sind Sie ausschließlich an Effizienzkriterien orientiert, oder wissen Sie, dass die Erfolglosigkeit vieler Experimente unvermeidbar ist, um Chancen und Gelegenheiten zu sehen? Die einzig moderne Strategie heißt »Ausprobieren«, Testballone steigen lassen, mit dem Scheitern rechnen. Experimentieren – das ist heute unternehmerisches Handeln unter Unsicherheitsbedingungen. In einer Welt, die nicht kontrollierbar ist, nicht der Planung gehorcht und auch nicht der kontrollierenden Mega-Hierarchie. Provisorisch, bis auf Weiteres, das heißt: spielerisch. Dieses Experimentieren ist nur möglich in einer heiteren, zukunftsgerichteten Unternehmenskultur – nicht in einer »hard culture« des Faustischen »Es wird kein Morgen geben«.
Bob Dylan, der sich und sein Image immer wieder zerstört und anders wieder aufgebaut hat, ist seit 1988 permanent auf Tour – aber mit ständig wechselnden Besetzungen. Er variiert von Konzert zu Konzert die Songlisten, spielt Songs an einem Abend akustisch, am nächsten elektrisch, verändert während einer Konzertreise mitunter Arrangement, Tonart und Geschwindigkeit. Manchmal erkennt man einen Song erst, nachdem er fast beendet ist. Das mag für seine Mitspieler schwierig sein, für seine »Kunden« aber entstehen auf diese Weise magische Momente, die nie zuvor zu hören waren. Aber nicht selten geht das auch grandios schief – auch dieses Scheitern ist für Dylans Konzerte typisch. Aber das eine ist ohne das andere eben nicht zu haben.
Schwache Signale erkennen
Selbst wenn uns die Erinnerung manchmal täuscht: Wirtschaftsgeschichtlich passiert es höchst selten, dass sich die Marktsituation über Nacht – einem Kometeneinschlag gleich – so radikal ändert, dass sich die Unternehmen nicht darauf einstellen können. Meistens haben sich die Entwicklungen angedeutet – in Form von Mini-Krisen, die das Unglück gleichsam ankündigten, für sich genommen jedoch noch keine Katastrophe waren.
Nehmen wir als Beispiel die Lufthansa. Das Unternehmen stand lange in Europa an der Spitze. Das machte schwerfällig. Unterschätzt wurden über Jahre der fulminante Aufstieg von Emirates, Qatar Airways sowie der Vormarsch der Billigflug-Anbieter. Erst nach Christoph Franz’ Übernahme 2011 schickte sich das Unternehmen an, die Selbstgefälligkeit auszumerzen. Was ein schmerzlicher Prozess war (und ist) vor dem Hintergrund einer langen Erfolgsgeschichte – die allerdings nur eine Erfolgsgeschichte war um den Preis des Wegsehens.
Aber selbst Unternehmen, deren Überlebensbedingungen sich bedrohlich verändern, tun vor allem eins: mehr vom selben. Sie antworten mit verstärkten Anstrengungen in der gleichen Richtung, halten aber an »bewährten« Strategien fest. Wie John Maynard Keynes schrieb: »Die Schwierigkeit besteht nicht sosehr darin, neue Ideen zu entwickeln, sondern alten zu entkommen.« Insolvenzverwalter berichten unisono von Unternehmensführern, die sich an Strategien klammern, die viele Jahre sehr erfolgreich waren, nun aber sichtbar nicht mehr funktionieren. Wenn man in Sanierungsprojekten die Krisenkette von der Liquiditätskrise über die Ertragskrise und Strategiekrise zurückverfolgt, dann stellt sich zumeist heraus, dass das Unternehmen in guten Zeiten schlicht geschlafen hat.
Wichtig also ist es, aufmerksam zu sein für die kleinen, von den wenigsten bemerkten Signale aus dem Umfeld. Sie richten noch keinen unmittelbaren Schaden an, oder aber die Verluste sind noch klein. Es ist menschlich, diese
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