Radikal
blieb er an dem Rechner sitzen und verfertigte verbissen ähnliche Mini-Dossiers zu den meisten anderen der zwölf eingeladenen Repräsentanten und Würdenträger, während die Sonne über dem See gemächlich von Osten nach Westen wanderte und allmählich immer sanfteres Licht ausstrahlte.
Wie einfach das war! Eine seinerzeit praktisch unbeachtet gebliebene Anzeige der Ehefrau wegen Körperverletzung hier (man musste ja nicht erwähnen, dass sie später zurückgezogen wurde, wer konnte schon sagen, warum?); ein Kennverhältnis zu einem später wegen Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung verurteilten 17-Jährigen da (sie standen auf derselben Unterschriftenliste gegen den Gaza-Krieg Israels, da werden sie sich wohl gekannt haben!); ein im Nachhinein gefährliches Lob aus dem Mund eines kurz darauf ausgewiesenen Hasspredigers für »klare Positionen« beim dritten (welche, war nicht ersichtlich, aber egal); ein missverständlicher Mitschnitt bei YouTube über die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie beim vierten; Facebook-Freundesfreunde, deren Postings man als antisemitisch deuten konnte, beim fünften …
Samson hatte Widukind so verstanden, dass er sich im Zweifel etwas Unwiderlegbares ausdenken sollte, doch das war gar nicht nötig. Natürlich war es nicht bei allen gleich einfach, ein paar Fälle erforderten ein höheres Maß an Abstraktion als andere. Aber als die Sonne unterzugehen begann und den See in orangenem Feuer erstrahlen ließ, setzte Samson den letzten Haken. In dem Konferenzraum stand auch eine Bar, und Samson schenkte sich aus einer Karaffe Whiskey ein.
Er wusste genau, was er gerade getan hatte: Er hatte eine lammfromme Versammlung von acht Personen in ein Kabinett des Grauens verwandelt. Aber hatte er sie wirklich verwandelt? Nichts was er aufgeschrieben hatte, war gelogen oder erfunden. Mochte sein, dass er den Zusammenhang nicht immer fair dargestellt hatte. Aber was ist das überhaupt, ein Zusammenhang ? Wo hört er auf? Und wieso kann man mit einem Zusammenhang rechtfertigen, was sich ohne ihn nicht rechtfertigen lässt, als wäre es Drachenblut, das vor Verwundungen schützt?
»Wo Gott Gesetze erlassen hat, brauchen wir keine eigenen«, hatte Laith Kaukab auf dem Islamseminar gesagt, das in seiner Moschee in Hildesheim abgehalten worden war und von dem Samson den YouTube-Mitschnitt ausgeweidet hatte. Er ahnte, was Kaukab gemeint haben könnte , weil es zu anderen Vorträgen von ihm passen würde : dass es für fromme Muslime Bereiche gibt, welche die staatliche Gesetzgebung nicht erreicht, die dafür aber durch den Koran geregelt sind. Dass fromme Muslime also zwei Gesetzen zu gehorchen haben: dem Koran dort, wo es keine anderen Gesetze gibt, und immer sonst den staatlichen Gesetzen da, wo sie leben. Kaukab hatte sich also womöglich bloß missverständlich ausgedrückt. Womöglich . Aber was, wenn es nicht so war? Vielleicht war seine Uneindeutigkeit ja sogar kalkuliert?
Oder Hakan Talha Özgenc: Hatte der seine Dissertation in Saudi-Arabien etwa an einem einzigen Nachmittag hingekritzelt? Nein, er hatte drei ganze Jahre investiert. Und wieso hatte er sie überhaupt geschrieben, wenn er angeblich etwas ganz anderes glaubte? Und wenn er heute etwas anderes glaubte als damals: Warum hatte er das nie öffentlich erklärt? Stattdessen wies er seine Doktorarbeit mit vollem Titel jedes Mal dann aus, wenn er auf einer Konferenz in einem islamischen Land sprach, aber merkwürdigerweise nie, wenn er in einem nicht-islamischen Land dozierte. Wieso nicht?
Und dann waren da noch Jasim Haidar El-Kindi, Achim »Hakam« Sörensen und Girges Albani: Hatte etwa irgendjemand diese drei dazu gezwungen, heimlich und unter schlecht ausgesuchten und noch schlechter geschützten Internet-Identitäten in dubiosen Islamistenforen ihre klammheimliche Freude über die Ermordung von Lutfi Latif zu verbreiten – und nahezu zeitgleich öffentlich Forderungen für den Runden Tisch aufzustellen und auf Fairness, Unvoreingenommenheit und Vorurteilsfreiheit zu pochen? Nein, auch das hatte Samson sich nicht ausgedacht. Im Gegenteil, er hatte ihr Doppelleben im Internet schon vor über zwei Wochen entdeckt, und ihre Namen hatten bereits auf der Liste gestanden, mit der er Sinn geködert hatte.
Aber noch jetzt machten ihre hämischen Kommentare über den ermordeten Abgeordneten ihn wütend. Unwillkürlich strich er sich mit der linken Hand über seinen wunden, rechten Unterarm, bis ihm klar
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