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Radikal

Radikal

Titel: Radikal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yassin Musharbash
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wurde, dass das peinlich war, weil er sich die Wunden selbst beigebracht hatte, aber andererseits: Hätte er denn an jenem Tag etwa nicht wirklich sterben können?
    Der Whiskey, von dem er sich mittlerweile schon zweimal nachgeschenkt hatte, begann zu wirken; sein Kopf wurde schwer, hinterseinen Schläfen pochte es. Aber auch das stoppte seine Gedankenflut nicht.
    Vielleicht ist es ja gar nicht verkehrt, diese Typen ausnahmsweise mal beim Wort zu nehmen. Wieso soll ich ihr Verteidiger sein? Wieso glaube ich überhaupt, ich könnte sie verstehen? Ihre wahren und friedlichen und ach so lauteren Absichten kennen?
    Und dann erschien ihm wieder Mohammed. Er erinnerte sich an Mohammed, wie der an seinem weiß-blau gekörnten Plastik-Küchentisch in der Marienstraße in Hamburg saß und Samson wohl zum dutzendsten Mal geduldig und mit einem leisen Lächeln und diesem merkwürdig entrückten und zugleich stechenden Blick erklärte, dass der Dschihad eben eine Pflicht sei. Und er sah sich selbst Mohammed gegenübersitzen, über zehn Jahre jünger als heute, ganz der wissbegierige Student. Sah sich, wie er Stichworte in seinen Block kritzelte und parallel darüber nachdachte, welch unfassbaren Druck es für Mohammed wohl bedeuten musste, diese auswendig gelernten Floskeln wiederzukäuen und zu verteidigen und gleichzeitig doch genau zu wissen, dass sie unmöglich sein Leben bestimmen konnten. Konnten sie aber. Und nicht nur sein Leben, sondern auch seinen Tod. Und nicht nur seinen Tod, sondern auch noch den von 3000 anderen Menschen.
    Wenn schon, denn schon!
    Samson schloss kurz die Augen, atmete tief durch, legte dann mit wenigen Mausklicks ein frisches E-Mail-Account an, das man nicht zu ihm würde zurückverfolgen können, und schickte sein Dossier anonym an den Argus , den Spiegel , Weltbild , den Focus und an die Drei Fragezeichen beim Globus . Dann ging er in das Zimmer im zweiten Stock, in dem er heute übernachten würde, und griff sich auf dem Weg dorthin die Whiskey-Karaffe von der Konsole, weil er wusste, dass er heute ohne Betäubung keinen Schlaf finden würde.
    ***
    »Sie suchen einen Konvertiten«, sagte Rieffen.
    Merle Schwalb musterte ihren Kollegen. Rieffen, der Meisterschreiber, trug ein gut sitzendes fliederfarbenes Hemd, dazu ein dunkelbraunes Jackett und eine hellbraune Hose. Alles passte gutzu seinen dunkelbraunen Haaren und den Augen, die, wie Merle Schwalb zum ersten Mal feststellte, ebenfalls dunkelbraun waren und sie an Kaffeebohnen erinnerten. Frederick Rieffen stellte sein Bierglas auf dem Stehtisch ab, an dem Merle Schwalb stand. Er sah eigentlich ziemlich gut aus.
    »Wer sucht einen Konvertiten?«, fragte sie zurück.
    »Das BKA . Ich bin übrigens Frederick.« Er reichte ihr die Hand.
    »Merle, angenehm. Na ja, was man halt so sagt.«
    »Ja, ich weiß, du hast wahrscheinlich einen etwas schrägen Eindruck von uns.«
    »Hab ich, in der Tat. Und wieso sucht das BKA einen Konvertiten? Wegen Lutfi Latif?«
    »Ja, wegen der Bombe. Sie haben einen entsprechenden Hinweis bekommen, der Präsident sagt, sie nehmen ihn ernst.«
    »Aber der Mann auf dem Video, habe ich gehört, ist ziemlich sicher Araber.«
    »Ja, habe ich auch gehört. Deswegen gehen sie jetzt von einer Zelle aus, mindestens zwei, vielleicht mehr Mitglieder.«
    »Verstehe. Danke.«
    »Gern. Aber deswegen bin ich nicht hier.«
    »Weswegen denn?«
    »Ich wollte unseren Eindruck korrigieren.«
    »Ganz alleine?«
    »Na ja, für die anderen beiden kann ich natürlich nicht sprechen. Aber ich bin ganz o.   k.«
    »Frederick, bist du betrunken?«
    »Nee. Ein bisschen, höchstens. Aber nicht so, dass ich nicht mehr weiß, was ich sage.«
    Das Sommerfest des Globus war eine kleine, fast intime Angelegenheit. Natürlich waren alle rund 300 Mitarbeiter des Verlages eingeladen, aber das dritte Geschlecht hielt nichts von pompösen Festen wie bei der Konkurrenz, wo man Gäste aus der Politik einlud, um sich preisen zu lassen, oder Rummelplätze mietete. Der Globus feierte im geräumigen Innenhof des eigenen Gebäudes an der Friedrichstraße, und die Geschäftsführung hatte lediglich ein Buffet und Getränke bewilligt und zudem eine minimalistische Dekoration, die gerade einmal dazu reichte, den gewohnten Arbeitsplatz imHalbdunkel der Dämmerung mit etwas anderen Augen als sonst zu sehen, weil grüne, blaue, gelbe und rote Lichterketten quer über die Köpfe der Mitarbeiter gespannt waren.
    Merle Schwalb nahm eine Gabel voll von ihrem Couscous-Salat

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