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Radikal

Radikal

Titel: Radikal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yassin Musharbash
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Gewitter hatte den Himmel aufgeklart, es war kühler als am Nachmittag, aber immer noch warm. Die ersten Sterne waren schon zu erkennen, obschon es noch hell genug war, dass man im Freien eine Zeitung hätte lesen können.
    »Da bin ich ja beruhigt«, antwortete Samson möglichst lässig.
    » Pippin , mir ist klar, dass Sie nicht für diese nächtlichen Ausflüge gemacht sind. Ihre Qualitäten liegen auf anderen Gebieten. Was Sie mit dem Runden Tisch angestellt haben, war exemplarisch. Behalten Sie es vorerst für sich, aber ich kann Ihnen jetzt schon sagen, dass der Bundesinnenminister den Runden Tisch morgen offiziell auflösen wird.«
    »Das ging ja schnell.«
    »Ja, sehr schnell. Dank Ihnen!«
    »Es war mir ein Vergnügen.«
    Sinn fingerte ein silbernes Etui aus seiner Hosentasche und bot Samson einen Zigarillo an. Samson lehnte ab. Sinn nahm einen heraus.
    » Pippin , ich möchte Sie zu einer besonderen Besprechung dazubitten. Übermorgen Abend. Ich bitte Sie, es einzurichten.«
    »Natürlich.«
    »Sie ahnen womöglich, worum es geht. Es ist aber unabdingbar, dass Sie mit niemandem darüber sprechen.«
    »Selbstverständlich.«
    »Das schließt Mitglieder des Kommandos ein.«
    »Ich weiß.«
    »Gut. Übermorgen, 21 Uhr.«
    Sinn steckte ihm einen Zettel zu.
    »Darauf steht die Adresse und ein Code, den Sie brauchen werden. Bitte merken Sie sich beides.«
    »Mache ich.«
    »Ich meine jetzt.«
    »Jetzt?«
    »Jetzt. Lesen Sie, prägen Sie es sich ein und geben Sie mir den Zettel zurück.«
    Samson entfaltete das Blättchen, memorierte die vier Zeilen und reichte es Sinn. Der Staatssekretär hielt bereits ein entzündetes Streichholz in der Hand. Er nahm den Zettel und verbrannte ihn. Dann steckte er sich seinen Zigarillo mit demselben Streichholz an.
    Er lächelte. »Schöner Abend, nicht wahr?«
    »Sehr schön.«
    Und jetzt war er auf der Rückfahrt nach Berlin. Die Fahrt mit der S   7 würde fast eine Stunde dauern, und das gleichmäßige Rattern beruhigte ihn. Er wusste, dass er sich längst bei Sumaya hätte melden müssen. Warum hatte er es nicht getan? Es hätte genug Gelegenheiten gegeben. Aber er war zu angespannt gewesen. Zu nervös. Und er hatte Angst gehabt, mit ihr zu sprechen. Zumindest über das, was er in der Zentrale getan hatte, und genau das würde sie wissen wollen. Stattdessen hatte er sich die drei Wochen über gezwungen, so wenig wie möglich an Sumaya zu denken, um seine Rolle spielen zu können. Wie hätte er Schmiere stehen können, als Renatus an der Moschee am Mehringdamm zündelte, wenn er an Sumaya gedacht hätte?
    Aber jetzt musste er sie sehen. Nicht nur, weil er, wie er hoffte, endlich kurz vor dem Durchbruch stand. Sondern weil er sie vermisste. Er sehnte sich nach ihr. Und da war noch etwas. Er spürte, dass er eine Pause brauchte, eine Unterbrechung in diesem maliziösen Rollenspiel. Sicher, es war seine selbst gewählte Mission, an Sinn heranzukommen. Aber seine Rolle verlangte ihm mehr ab, als er erwartet hatte. Mehr, als er noch lange nur mit sich selbst würde ausmachen können.
    An der S-Bahn-Haltestelle Warschauer Straße stieg Samson aus und entschloss sich, bis zu Sumayas Wohnung zu laufen. Als er die Oberbaumbrücke überquerte, die Kreuzberg und Friedrichshain verband, genoss er die warme Brise, die ihm ins Gesicht wehte. Rechts und links von ihm liefen Studentinnen und Studenten in beiden Richtungen ihren abendlichen Vergnügungen entgegen, einige kaum jünger als er. Sie schleppten Grillgerätschaften mit sich herum, wahrscheinlich auf dem Weg in den Görlitzer Park, oder saßen mit Hefeweizen-Gläsern bewaffnet in den Straßencafés, die seinen Weg säumten. Doch ihre Leichtigkeit schmerzte ihn.
    Wieso saß nicht er mit fünf oder sechs Freunden auf diesem Sperrmüllsofa, beglotzte Passanten, riss Witze und pfiff hin und wieder einem Mädchen hinterher, während er Beck’s trank? Wahrscheinlich würde er höchstens ein halbes Dutzend Gelegenheiten in seinem Leben aufzählen können, an denen er ähnlich unbeschwert gewesen war. Die Kursfahrt nach London vielleicht. Ganz sicher die Tauchreise in Australien. Ein paarmal mit Merle, die Ausflüge an den Badesee, der Sex. Aber oft war es ihm nicht geglückt. Warum nicht? Habe ich kein Talent dazu, mich gehen zu lassen? Nur das zu tun, worauf ich Lust habe? Es war ja vielleicht noch nachvollziehbar, dass er seit dem Erlebnis mit Mohammed und seinen Freunden einen Teil seiner Unbeschwertheit für immer verloren hatte. Und

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