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Radikal

Radikal

Titel: Radikal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yassin Musharbash
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dass er sich seitdem tagaus tagein mit Terroristen beschäftigte, hatte sie sicher nicht wiedergebracht. Aber die eigentliche Frage war doch: Hatte er sich diesem Thema vielleicht nur zugewandt, weil er sich mit dem Glücklichsein so schwertat?
    Merle hatte sich zum Schluss ganz offen bei ihm darüber beschwert. Dabei hatte sie sein Geheimnis nicht einmal gekannt. Wusste nicht, dass er anderthalb Jahre lang die Todespiloten des 11. September und ihre Freunde mehrmals pro Monat getroffen hatte, Mohammed und Ziad und Ali und Khaldun und Abbas und all die anderen, dass er ihre Hochzeiten und Feste mit ihnen gefeiert hatte, ihren Brandreden gelauscht, sogar ihre Dschihad-Gesänge transkribiert hatte. Dass er seitdem immer wieder daran denken musste und von Mohammeds stechenden Augen verfolgt wurde. Aber vielleicht war das ja auch nicht der einzige Grund für seine Verschlossenheit, und sie speiste sich noch aus anderen Quellen.
    Merle hatte sich darüber beklagt, dass er alles so ernst nahm. Dass er so selten lachte. Dass es doch immer so schön sei, wenn er es einmal tat, aber eben leider so selten. Sie hatte versucht herauszufinden, ob es etwas mit seinen Eltern zu tun hatte. Hatte es aber nicht. Die lebten, seit er 18 Jahre alt war und zum Studieren nach Hamburg zog, in ihrem Ferienhaus in der Schweiz. Ein- oderzweimal im Jahr buchten sie ihm einen Flug, sie feierten Weihnachten zusammen, telefonierten an ihren jeweiligen Geburtstagen, und ihr Verhältnis war weder schlecht noch gut, sondern langweilig. Sie fragten nicht, was er tat, er erklärte es ihnen nicht, es gab keine Konflikte, und niemand hatte zu leiden. Nein, Merle, das war es nicht. Das ist es nicht.
    Schon eher, vielleicht , dass er oft das Gefühl gehabt hatte, er gehöre irgendwie nicht dazu. Nicht wegen etwas Augenscheinlichem. Er war nicht gehbehindert, wie sein Freund Stefan es war. Er war auch nicht auffallend hässlich oder unübersehbar uncool gewesen. Nicht abstoßend fett und kein offensichtliches Muttersöhnchen, kein Ausländer, kein schlecht getarnter Nerd oder sonst wie peinlich. Nur ein bisschen unheimlich.
    Es war zum Beispiel so, dass er über Witze nicht lachen konnte, weil er immer, und zwar absolut zuverlässig, die Pointe vorhersah. Diese Fähigkeit umfasste auch andere Bereiche. Er war sehr gut darin, das Verhalten anderer vorherzusagen. Vielleicht zu gut. Er war sich dessen lange nicht bewusst gewesen. Aber offenbar versetzte er sich ständig und ohne es zu wollen oder auch nur zu merken, sehr effektiv in den jeweils Handelnden hinein. Es war wie eine Gleichung, die er im Hintergrund durchrechnete: die Ziele, die Fähigkeiten, das Verhältnis zwischen beiden. Er lag selten daneben. Aber es war leider ein Talent, das auf wenig Bewunderung stieß. Seine Mitschüler, später seine Kommilitonen, fanden es eher befremdlich. Samson aber konnte das Programm nicht abstellen. Entweder er lachte nicht mit. Oder er verdarb allen den Spaß, indem er vorhersagte, wer was als Nächstes tun oder sagen würde.
    War das vielleicht der Grund, fragte er sich, aus dem er sich unbewusst denen zugewandt hatte, bei denen der Trick nur eingeschränkt funktionierte? Wie bei Mohammed. Mit wie viel Arroganz hatte er geglaubt, ihn und seine Freunde durchschauen zu können! Doch am Ende war er Lügen gestraft worden, bittere Lügen. Wie bei den Terroristen, mit denen er sich jetzt beschäftigte, wo er zwar nicht schlecht mit seinen Prognosen war, aber oft genug danebenlag, wie alle anderen auch, die sich damit befassten; eine tägliche Übung in Demut. Hatte er deswegen anstelle von ausrechenbaren Romanenschon immer Bücher über Nachrichtendienste und Verschwörungstheorien vorgezogen, über das Verborgene und das Unvorhersehbare?
    Hatte er sich deswegen in Sumaya verliebt?
    Um überrascht zu werden?
    Samson spürte, dass dieser Gedanke einen Abgrund auftat. Wie merkwürdig, dass er ihn noch nie gedacht hatte. Er schob ihn dennoch beiseite. Nicht jetzt . Er war sicher, dass bei seinen Gefühlen für Sumaya mehr im Spiel war, als dass er sie nicht ausrechnen konnte. Viel mehr.
    Er bog in die Wiener Straße ein und dachte an ihre Hände, die wie warmes, weiches Holz ausgesehen hatten, als er sie zum ersten Mal im Prater getroffen hatte. Das schöne Braun ihrer Haut, von einer Nuance, dass man unmöglich sagen könnte: Es ist hellbraun. Oder: Es ist dunkelbraun. Wie sie schlafend neben ihm gelegen hatte. Sumaya, die Majestätische. Oder meinetwegen

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