Radikal
Hocherhabene. Die Himmlische? Noch besser. Er freute sich, dass er gleich vor ihrem Haus stehen würde. Es war 22 Uhr. Vermutlich würde sie mit Mina auf dem Balkon sitzen. Und nichts würde er lieber tun, als sich dazuzusetzen, nichts auf der Welt. Mit Sumaya würde er es anders machen. Irgendwo in seinem Inneren, das wusste er, war er lustig und frei. Irgendwo.
***
Sumaya saß mit Mina und Ulf auf dem Balkon, als sie ein leises Pfeifen hörten.
Ulf stand auf und blickte über die Brüstung in den Innenhof. »Da steht ein Typ und schaut hier rauf«, rapportierte er.
Mina stand ebenfalls auf und stellte sich neben Ulf. »Susu, es ist Samuel!«
Sumaya wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Sie spürte nur, wie ihr Gesicht heiß wurde.
»Susu, soll ich ihn reinlassen?«, fragte Mina. Und noch einmal: »Susu? Was soll ich tun?«
»Lass ihn rein«, beschied Sumaya schließlich.
Mina bedeutete Samuel, dass er hochkommen solle. »Ich glaube,er ist ein bisschen enttäuscht, dass ich ihm gewunken habe und nicht du«, sagte sie.
»Recht so«, antwortete Sumaya.
Als es an der Wohnungstür klopfte, bat sie ebenfalls Mina, aufzumachen. Ihre Mitbewohnerin ging, ließ Samuel herein und kehrte mit ihm zurück auf den Balkon.
»Hallo, Sumaya!«, sagte er.
»Hallo, äh, Samson , richtig? Ich bin beruhigt, dass du anscheinend doch nicht mit Betonschuhen in der Spree gelandet bist.«
Sie wollte eigentlich gar nicht wütend sein. Samuel sah müde aus und hatte tiefe Augenringe. Er schien schmaler geworden zu sein. Aber sie war verletzt und konnte es nicht verleugnen. Sie sah ihn an, und augenblicklich sah sie wieder das Foto vor sich, das Fadi ihr gezeigt hatte. Was hatte er sonst noch getan, außer dabei zuzusehen, wie das Kommando versucht hatte, eine Moschee anzuzünden?
Das Lächeln, mit dem Samson auf den Balkon getreten war, wich aus seinem Gesicht. »Ich weiß, ich hätte mich melden müssen«, sagte er sanft.
»Ach ja?«
»Ja, und es tut mir leid.«
»Ich versteh’s noch nicht ganz. Konntest du dich nicht melden oder wolltest du nicht?«
»Sumaya, es gab Gründe. Ich versuche später, es dir zu erklären, ja?«
»Hattest du vielleicht einfach keine Zeit, weil du so beschäftigt warst und so viel zu tun hattest? Nachts am Mehringdamm zum Beispiel?«
»Scheiße, Sumaya, woher weißt du das?«
Er war jetzt ernsthaft alarmiert, und Sumaya bedauerte, dass sie vor Ulf, der nicht eingeweiht war, eine solche Andeutung gemacht hatte. Umso dankbarer war sie, dass Mina eingriff.
»Ihr beiden Turteltäubchen, könntet ihr eure kleine Vergangenheitsbewältigung vielleicht später zu zweit erledigen? Ja? Damit wir jetzt noch ein bisschen zusammen den Abend genießen können?«
Bevor jemand etwas erwidern konnte, fragte sie Samuel, was er trinken wolle, schenkte ihm von ihrem selbstgemachten Eistee einund stellte Ulf und Samuel einander vor. Es half, dass aus einer der Nachbarwohnungen Bob Marley herüberwaberte.
Sumaya stellte erleichtert fest, dass Ulf entweder bereitwillig mitspielte oder die Brenzligkeit der Situation nicht verstanden hatte, jedenfalls nahm er Samuel sofort in Beschlag, um ihm die üblichen Fragen zu stellen, wobei sie wiederum mit Interesse registrierte, dass Samuel auf die Frage, was er so mache, antwortete, er sei ein freier und unterbeschäftigter Journalist. Vermutlich, dachte sie, hat er sich das so angewöhnt. Was soll er auch sonst sagen? Ich benehme mich seit Jahren wie ein Terrorist, aber ich bin natürlich keiner. Verstehst schon: Dschihadisten, radikale Islamhasser, was halt so anfällt?
Samuel hatte sich auf den freien Stuhl neben ihr gesetzt. Nun spürte sie, wie er vorsichtig mit seinen Fingerspitzen nach den ihren tastete, während er mit Ulf über den Tisch hinweg über die Vor- und Nachteile von Master- und Bachelor-Studiengängen plauderte. Aber sie war immer noch zornig. Wie konnte sie seine Hand halten, solange sie nicht wusste, was er mit genau diesen Händen angestellt hatte? Sie ließ ihn im Ungewissen, ein oder zwei Minuten lang, und merkte, wie er immer unsicherer wurde, die Berührungen ihrer Finger erst immer zaghafter, dann immer bittender wurde; schließlich gab er es auf.
Einmal, nur für einen kurzen Augenblick, zog sie ihre Hand nicht zurück. Sofort registrierte sie, wie er sich entspannte. Es wäre schön, wenn es immer so sein könnte, dachte Sumaya. Aber es ist nicht so. Dann entzog sie ihm ihre Hand wieder.
Nach einer halben Stunde sorgte Mina dafür, dass
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