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Radikal

Radikal

Titel: Radikal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yassin Musharbash
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ein verpfuschtes Leben ist unantastbar!«, stand in Blau auf Hellgelb an der Hauswand. Vielleicht waren sie damals beide so empfänglich für diese merkwürdige Forderung gewesen, weil Merle am Tag zuvor eine Absage vom Spiegel erhalten hatte, bei dem sie eigentlich hatte anfangen wollen, und Samson sie getröstet hatte, bis sie eingeschlafen war. Nie wieder hatte sie Samson danach so ausgiebig lachen hören.
    Ein Recht auf ein verpfuschtes Leben , dachte Merle. Als hätte es das nicht schon immer gegeben. Aber wie steht es mit dem Recht auf ein unverpfuschtes Leben? Dem Recht darauf, dass einem andere das Leben nicht zerstören?
    Sie blickte auf ihre Uhr. Es war Zeit, sich mit Henk Lauter und Frederick Rieffen zu treffen. Es musste einen Weg geben. Und sie mussten diesen Weg finden.
    ***
    Geschmeidig legte die S-Bahn sich in die Kurve. Er war die Strecke Hunderte Male gefahren, vielleicht sogar tausendmal, aber zum ersten Mal genoss er bewusst den leichten Druck, mit dem sein Oberkörper in der Schieflage an die Wand des Waggons gedrückt wurde. Er schloss die Augen. Ob S-Bahn-Fahrer die Kurven ebenfalls genossen? Ob sie sich auf sie freuten, vielleicht gar versuchten, sie mit besonders hohem Tempo zu nehmen? Er hatte in Wahrheit nicht die geringste Ahnung, wie viel Einfluss ein S-Bahn-Fahrer überhaupt auf die Fahrt hatte, ob es in seiner Macht lag, besonders schnell oder besonders langsam zu fahren, oder ob alles von irgendeinem seelenlosen Computer in irgendeiner Zentrale gesteuert wurde. Aber wenn alles nur von einem riesigen Computer gesteuert wurde, wofür brauchte man dann überhaupt S-Bahn-Fahrer? Irgendetwas mussten sie in ihrem Cockpit zu melden haben. Sagte man Cockpit? Oder vielleicht Kabine? Führerhäuschen?
    Niklas Weissenthal spürte die Sonne auf seinen geschlossenen Augenlidern und freute sich, dass er das spürte. Er hatte seit drei Tagen nicht mehr gekifft. Nicht einmal mehr Zigaretten geraucht. Er hatte mit seiner Mutter geredet, ohne zu schreien. Er hatte vorher nicht gewusst, dass sein Vater S-Bahn-Fahrer gewesen war.
    Er wusste nicht, ob das etwas war, auf das man als Sohn stolz sein konnte.
    Aber immerhin hatte sein Vater, jedenfalls nach allem, was er wusste, keine partielle Schuld am Tod von vierzehn Menschen. Und das, hatte Niklas mittlerweile beschlossen, war ein Grund, stolz zu sein.
    Er hatte die E-Mail am Morgen nach seinem fehlgeschlagenen Selbstmordversuch abgeschickt. Er fühlte sich schuldig. Aber er wollte nicht ins Gefängnis. Deswegen kam die Polizei auf keinen Fall infrage. Andererseits war der Anschlag noch immer nicht aufgeklärt, und wenn er irgendetwas wiedergutmachen konnte, dann ja wohl, indem er dabei mithalf. Also, so lautete sein Entschluss nach einer dreistündigen Internetrecherche über Befugnisse, Arbeitsmethoden und Kompetenzen verschiedener Behören, wenn überhaupt, dann der Verfassungsschutz.
    Es hatte nicht lange gedauert, bis er eine Antwort auf seine E-Mail erhalten hatte. Und sie hatte anders geklungen, als er es erwartet hatte. Irgendwie freundlicher. Der Mann hatte sogar seinen Namen genannt. Na ja, einen Namen. Aber immerhin. Herr Utrecht hatte sich bedankt und versprochen, dass er anonym bleiben könne. Dass er jedoch dringend mit ihm sprechen müsse. Ob er einen Ort und eine Zeit vorschlagen könne? Aber es müsse schnell gehen. Er würde vermutlich eine Kollegin zu dem Treffen mitbringen. Niklas hatte ohne nachzudenken elf Uhr am Dienstag vorgeschlagen, und Utrecht hatte den Termin umgehend bestätigt.
    Er erkannte die beiden sofort. Utrecht hatte wie versprochen eine Norddeutsche Zeitung unter den Arm geklemmt. Neben ihm stand eine junge Frau in einem braunen Baumwollkleid, das gut zu ihrer Haarfarbe passte, wie Niklas fand, als er sie von hinten betrachtete. Die beiden standen wie vereinbart vor der Wasseruhr im Europa-Center und schauten zu, wie die giftgrüne Flüssigkeit die abgeflachten kleinen Kugeln füllte. Es musste Punkt elf Uhr sein, als Niklas Utrecht auf die Schulter klopfte, denn gerade ergoss sich die gesammelte Flüssigkeit aus den kleinen Kugeln in eine der großen Kugeln. Jedenfalls wenn die Uhr exakt ging, was Niklas jedoch nicht wusste.
    Utrecht hatte sich mit blauer Windjacke, Jeans und Wanderschuhen als Tourist verkleidet. Er nickte freundlich, nachdem er sich zu Niklas umgedreht hatte, und machte mit einem fragenden Blick und einer kreisenden Bewegung seiner Hand den Vorschlag, um die Uhr herumzulaufen.
    Niklas nickte zurück,

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