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Radikal

Radikal

Titel: Radikal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yassin Musharbash
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»Recherchen von GlobusOnline « würden dies erhärten. Erlinger verriet trotzdem nicht zu viel. Die Online-Geschichte war für ihn schließlich nur der Auftakt für die große, umfassende, ultimative Geschichte über Samson, die er für die nächste Ausgabe des gedruckten Globus schreiben würde.
    Merle hatte vorhergesehen, dass Erlinger so vorgehen würde, und es zu einem Teil ihres Plans gemacht. Die Online-Geschichte und ihre Mitwirkung daran waren der Preis, den sie dafür bezahlte, dass er ihr traute; ihr abnahm, dass das dritte Geschlecht ihren Widerstand gebrochen hatte und sie selbst von Samsons Unschuld nicht mehr ausreichend überzeugt war, um ihn noch weiter zu verteidigen. Das war ihre einzige Chance, die Geschichte im gedruckten Globus doch noch zu verhindern: mit Erlinger zu kooperieren, um hinter seinem Rücken und in seinem Windschatten die Wahrheit herauszufinden, an der er nicht interessiert war.
    Also schickte sie Erlinger bereitwillig immer neue Details überSamson für die große Geschichte im gedruckten Magazin, für die mindestens acht Seiten freigehalten würden, wie Rieffen ihr verraten hatte. Sie war lange genug Journalistin, um zu wissen, was Erlinger glücklich machen würde:
    Dass Samson bis zum Alter von acht Jahren eingenässt hatte.
    Dass Karl-May-Bücher ihn zum Studium der Arabistik veranlasst hatten.
    »Von Karl May zu al-Qaida, das ist stark, Schwälbchen!«
    Dass er bei den Pfadfindern rausgeflogen war, weil er heimlich im Zeltlager geraucht hatte, und seitdem vermutlich auf der Suche nach einer neuen Gruppe gewesen war, der er sich zugehörig fühlen konnte.
    Dass er Kampfsport betrieb.
    Dass er gerne Gin Tonic trank.
    Dass sein Vater eine dominierende, aber unnahbare Figur für ihn gewesen war.
    Dass er in den ersten Jahren seines Studiums gelegentlich gekifft hatte, damit aber schlagartig aufgehört hatte, nachdem er sich mit Mohammed Atta angefreundet hatte.
    Dass er früher Comics gesammelt hatte.
    Dass er beschnitten war.
    »Danke, Schwälbchen, das weiß ich wirklich zu schätzen!«
    Nichts davon stimmte.
    Aber es stimmte ja sowieso nichts mehr.
    Sie dachte daran, wie Samson in seiner Zelle in Moabit vermutlich gerade verzweifelt auf und ab lief, und schickte Erlinger eine weitere Zulieferung, der er entnehmen konnte, dass Samson sich selbst kurz vor dem Attentat bei einem Mitarbeiter Lutfi Latifs erfolgreich als Sicherheitsberater auf Tageshonorarbasis ins Spiel gebracht hatte.
    »Keep him happy«, hatte Frederick Rieffen ihr geraten. »Je mehr du ihm gibst, desto mehr wird er angeben, was wir alles schon haben, desto einfacher wird es für mich, Sachen an dich zurückzuspielen.«
    Es war ein Wettlauf gegen die Zeit und ein Spiel mit dem Feuer.
    Schon die dürre Geschichte auf GlobusOnline schlug riesige Wellen. Eine knappe halbe Stunde nach Veröffentlichung verbreiteten die Nachrichtenagenturen die ersten Details aus dem Artikelbegierig weiter. Eine Stunde danach forderte der erste Bundestagsabgeordnete auf ArgusOnline schon ein Konvertitenregister: Es dürfe ja wohl nicht sein, dass man mitten in Deutschland einfach in eine Moschee marschieren und das islamische Glaubensbekenntnis sprechen könne, und schon sei man Muslim, als sei das die normalste Sache der Welt!
    Natürlich, reagierte zwei Stunden später bedächtig der Bundesinnenminister in der Mittagsausgabe der Tagesschau , dürfe es keinen Generalverdacht geben. Aber genau deshalb müsse ja auch niemand Sorge haben, wenn er als Konvertit künftig erfasst würde. Ein Konvertitenregister, na ja , es sei nie eine gute Idee, etwas übers Knie zu brechen. Aber ebenso falsch sei es doch, alles sofort abzulehnen, oder etwa nicht?
    »Der Schläfer aus dem Friedrichshain: ›Trink Bier, triff Mädchen, und töte sie alle!‹, befahl ihm al-Qaida«, titelte derweil die Online-Ausgabe einer Berliner Boulevardzeitung. Und selbst die seriösen Zeitungen und Nachrichtensender hatten wenig Mühe, Experten zu finden, die ihnen umgehend bestätigten: Tarnkappen-Konvertiten wie Samuel S. waren die neue Gefahr, vor der sie selbst allerdings schon seit Jahren gewarnt hatten, aber es hatte ihnen ja niemand zugehört.
    Was für selbstgerechte Arschgeigen.
    Sie musste daran denken, wie sie vor Jahren, als sie noch mit Samson zusammen gewesen war, einmal mit ihm gemeinsam aus seiner Wohnung getreten war und beide angesichts eines über Nacht an die Wand des Nachbarhauses gesprayten Graffitos minutenlang lachen mussten. »Das Recht auf

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