Radikal
die Augen und versuchte, sich den Verfasser vorzustellen. Zunächst geschah gar nichts. Aber dann formte sich vor ihrem geistigen Auge ein Bild. Sie sah einen etwa dreißigjährigen Mann, der eine khakifarbene bodenlange Dschalabija trug. Er hatte funkelnde dunkle Augen und einen etwa faustlangen tiefschwarzen Bart. Wütend drosch der Mann auf eine abgenutzte Tastatur ein.
Wir halten das für bedrohlich.
Dann nahm sie sich die zweite E-Mail vor.
Es gibt kein größeres Vergehen, als sich auf die Seite des Taghut zu schlagen, und wenn du auch nur etwas über deinen Din weißt, dann weißt du genau, wie das Urteil für dich lautet. Du bist ein Murtadd. Und sie sind wie eine Krankheit und verbreiten Fitna. Und es wird jemand kommen, du wirst Besuch bekommen, verlasse dich dadrauf! Das wird gar nicht lange dauern.
Wieder versuchte sie, sich den Absender auszumalen. Hatte es etwas zu bedeuten, dass er zahlreiche religiöse Begriffe verwendete? Din, Taghut, Murtadd, Fitna … Offensichtlich war es jemand, der sich intensiv mit islamischer Theologie beschäftigt hatte: Glaubenspraxis, Tyrann, Apostat, Zwietracht … Trotzdem erschien vor ihrem geistigen Auge dasselbe Bild wie zuvor: ein zorniger Mann mit einem Fusselbart.
Sumaya schüttelte unwillkürlich den Kopf, wie um das Bild zu vertreiben. Woher war es überhaupt gekommen? Konnte es sein, dass sie, ausgerechnet sie, dieselben Klischees im Kopf hatte wie all die anderen, über die sie sich immer so empörte? Sie wusste es doch besser. Oder etwa nicht? Was war denn bedrohlich an einem Bart? Einem Gewand? Sie hatte zahllose solcher Männer gesehen, die friedliebend und freundlich waren. Als sie mit ihrem Vater in Damaskus gewesen war zum Beispiel oder mit Fadi in Beirut oder bei ihrer Tante in Ramallah. Wieso also musste sie nur ein paar Sätze hasserfüllter Drohungen lesen, die mit islamischem Vokabular gespickt waren, damit sich diese Menschen vor ihrem geistigen Auge in Karikaturen verwandelten, so als habe jeder von ihnen einen blutrünstigen Zwilling, der nur herausgekitzelt zu werden brauchte? Auch in ihren Kopf, stellte Sumaya fest, hatte sich anscheinend eingefräst, wie ein Islamist , ein islamischer Extremist , ein Dschihadist , ein Mudschahid , ein Gotteskrieger auszusehen hatte.
Andererseits, dachte Sumaya, habe ich mir dieses Bild aber doch auch nicht ausgedacht. Sehen die Bösen denn etwa nicht genau so aus? Die Bombenleger am Hindukusch im Auslandsjournal , die Angeklagten aus dem Terrorprozess in der Tagesschau , die Terroristen in ihren Rekrutierungsvideos aus Waziristan auf ArgusOnline ? Ich lese und ich sehe Bilder , dachte Sumaya, und die Bilder, die ich sehe,sind die, die man mir gezeigt hat, bevor ich überhaupt mit dem Lesen anfing. Sie war sich nicht sicher, ob das eine wichtige Erkenntnis oder eine völlig banale Aussage war. Aber sie beschloss, analytischer vorzugehen. Nicht mehr nach Bildern zu suchen. Sondern nach Fakten, aus denen man etwas ableiten konnte.
***
Montags war Großkampftag beim Globus , das allwöchentliche Jüngste Gericht, der Tag, an dem Lob verteilt und zurückgenommen wurde, an dem Karrieren neue Knospen trieben oder verödeten. Oft war es am besten, wenn man selbst oder die eigene Geschichte gar kein Thema auf einer der zahlreichen Konferenzen des Tages war. Gar nicht erst zu erscheinen, das war an einem Montag indes keine Option.
Die große Konferenz, auch Inquisition genannt, fand stets im obersten Stockwerk des Globus – Gebäudes statt, einem kleinen Hochhaus an der Friedrichstraße, das eigentlich einmal ein Hotel hatte werden sollen. Allerdings hatten die Investoren irgendwann den Glauben an ihr Konzept verloren. Die Geschäftsführung des Magazins hatte den Rohbau übernommen, der zu diesem Zeitpunkt unfertig genug gewesen war, um den eigenen Bedürfnissen angepasst werden zu können, zu denen unter anderem der große Saal gezählt hatte, in dem Merle Schwalb nun, eingezwängt zwischen anderen Gedöns – Redakteuren, in der zweiten Stuhlreihe saß, die sich um den mächtigen Konferenztisch gebildet hatte. In der ersten Reihe saßen Ressortleiter, Star-Redakteure, besonders Mutige oder besonders Ahnungslose und ab und an ein Angeklagter. Die zweite Reihe gehörte dem Fußvolk. Die übrigen Sitzplätze auf den Holzpaneelen über den Heizkörpern teilten sich Praktikanten, Volontäre und Hospitanten.
Der riesige Tisch im Zentrum des Raumes war unregelmäßig oval geschnitten, zu einer Seite hin
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