Radikal
verjüngte er sich, sodass an diesem Ende nur Platz für genau eine Person war: und zwar für Adela von Steinwald, die allmächtige Besitzerin und Herausgeberin des Globus , so allmächtig, dass Chefredakteure an ihrer Seite kaum je mehr waren als Chefsekretäre. In ihrer Abwesenheit hieß Adela vonSteinwald nur »das dritte Geschlecht«, denn es wurde kolportiert, dass sie dem Betriebsrat, als er es wagte, sich über den Mangel an Frauen in Führungspositionen zu beklagen, entgegnet hatte: »Ich kenne überhaupt keine Geschlechter. Ich kenne nur eines, nämlich meins.«
Selbstverständlich hatte sie sich auf ihre illustre Familie bezogen. Aber ebenso selbstverständlich hatte sie sich damit einen bleibenden Spitznamen eingehandelt. Ob die Chefin ihn kannte, war unklar. In jedem Fall aber passte er zu einer der wenigen Traditionen, die der Globus seit seiner Gründung im Jahr nach der Wiedervereinigung entwickelt hatte. Es war eine verbreitete Marotte unter den Mitarbeitern, mehr oder weniger lustige Spottnamen für Redaktionsinterna und Personen zu erfinden und zu verwenden. Diese Tradition fügte sich in den generellen Stil der freundschaftlichen Gehässigkeit, der bei dem Blatt gepflegt wurde, sodass zum Beispiel oft nicht klar war, ob ein bestimmter Spitzname Anerkennung oder Geringschätzung transportieren sollte.
Wahrscheinlich, dachte Merle Schwalb, während sie den Blick über die versammelten Kollegen schweifen ließ und die Namen im Kopf durchging, ist das beabsichtigt. Kaskaden-Klaus zum Beispiel: der mehrfach preisgekrönte Chefreporter Klaus-Dieter Krien, bekannt für seine virtuosen, absatzlangen Sätze. Oder Heli-Geli: Angelika Jorgens, die sich um Verteidigungspolitik und die Beziehungen zur Bundeswehr kümmerte. Nur bei den Drei Fragezeichen war klar, dass es sich um eine Auszeichnung handelte. Arno Erlinger, Frederick Rieffen und Lars Kampen bildeten die ressortübergreifende Spezialeinheit für investigative Recherche. Die drei Männer, allesamt erst in den Dreißigern, standen in dem Ruf, dass kaum ein Geheimnis vor ihnen sicher war. Heute Berlin, morgen Moskau, übermorgen Monte Carlo, quasi jede Woche eine exklusive Geschichte im Blatt – und kaum je wusste ein normalsterblicher Redakteur vorab, woran die drei arbeiteten, die sich einen eigenen kleinen Seitenflügel teilten, wo es den Gerüchten zufolge einen Hochleistungsscanner zum Einlesen der Unmenge von vertraulichen Dokumenten gab, die die Drei Fragezeichen regelmäßig heranschafften.
Das dritte Geschlecht wiederum stand zu Recht in dem Ruf, dass sie keine Freundin langer Worte war. Pünktlich wie ein Uhrwerkgriff sie in diesem Moment zu der bronzenen Glocke vor sich auf dem Tisch und läutete die Inquisition ein: »Ordentliches Heft diese Woche. Danke Ihnen allen. Na ja, fast allen.«
Merle Schwalb bemerkte, wie etliche ihrer Kollegen sich ob dieser Worte in eine entspanntere Sitzhaltung begaben. Das war ein ausgesprochen milder Auftakt. Es folgte die Generalkritik an der aktuellen Ausgabe, deren Titelgeschichte sich mit dem Tierschutz beschäftigt hatte. Die Ressortleiter ergriffen als Erste das Wort, danach kamen einfache Redakteure an die Reihe, wenn sie etwas anbringen wollten. Es blieb an diesem Vormittag einigermaßen harmonisch. Kein großer Auftritt. Kein Versuch, einen Kollegen oder eine Kollegin zu meucheln. Nur vereinzelte und sorgsam versteckte Spitzen.
Schließlich ging es an die Planung des nächsten Hefts. Nach einer Weile hob Arno Erlinger, der inoffizielle Chef der Drei Fragezeichen, die Hand. Lässig in seinem Sessel sitzend, ergriff der Zweimetermann auf ein Kopfnicken der Chefin hin das Wort: »Ich finde, wir sollten die Meldung über die Drohungen gegen Lutfi Latif zum Anlass nehmen, noch mal auf zwei oder drei Seiten der Frage nachzugehen, was militante Islamisten hierzulande so alles treiben. Wir sitzen da auf ein paar Papieren, die ganz gut reinpassen würden. Brisantes Zeug. Da dürfte noch einiges auf uns zukommen.«
»Idee ist gut«, sagte das dritte Geschlecht. »Wo würde das laufen?«
Merle Schwalb hoffte inständig, dass Henk Lauter sich melden würde, ihr Ressortleiter. Denn das würde so gut wie sicher bedeuten, dass die Aufgabe an sie gehen würde. Unter anderen zumindest. Sie blickte den hageren Mann an. Aber Henk polierte seine Brille. Er hatte zugehört und nickte, aber er reklamierte das Thema nicht für sich.
»Niemand?«, fragte das dritte Geschlecht mit einem Anflug von Strenge in der
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