Radikal
Sumaya entschied kurzerhand, dass es gewiss keinen Ärger geben würde, wenn sie sich einfach an den Schreibtisch im kleinsten und am weitesten hinten liegenden Raum setzen würde. Kaum hatte sie sich auf dem Drehstuhl niedergelassen, kam Munkelmann auf sie zu.
»Hier, bitte schön«, sagte er und hielt ihr einen dicken Umschlag hin.
»Danke«, antwortete Sumaya. »Das ist wirklich ein heftiger Anfang, oder?«
»Ja, schon«, sagte Munkelmann. »Aber ich schätze, irgendwie war auch klar, dass einer vom BKA das früher oder später durchstechen würde.«
»Durchstechen?«
»Weitergeben, an die Presse.«
»Ach so.«
»Na dann bis später«, sagte Munkelmann und entfernte sich wieder.
Wie schnell auf einmal alles geht , dachte Sumaya, während sie den Umschlag öffnete. Sie hatte das Wochenende zwar voller Vorfreude auf ihren Job verbracht, aber ohne jede ernsthafte Vorbereitung, wie ihr immer deutlicher bewusst wurde.
Stattdessen hatte sie am Samstag lange ausgeschlafen, war danach am Kanalufer joggen gegangen und hatte den ganzen Abend mit Mina auf dem Balkon gesessen. Am Sonntag hatte sie Fadi in seinem Internetcafé im Kreuzberger Graefekiez besucht und anschließend fast den ganzen Tag mit ihm verbracht. Sie mochte es, mit einem beiläufigen Winken durch die scheppernde Tür zu treten, sich eine Fanta aus dem Kühlregal zu nehmen und sich still neben Fadi zu setzen, der von einem schlichten weißen Tisch aus, auf dem eine Kasse und ein großer Rechner standen, seinen Kunden ihre Sitzplätze an den mit Sichtblenden voneinander getrennten Computernischen zuwies. Kannte er seinen Kunden, reichte ihm dazu ein Nicken. Kannte er ihn nicht, fragte er schlicht: »Internet?« Lautete die Antwort ja, nannte er die Nummer desjenigen Rechners, den er aus unerfindlichen und nicht zu hinterfragenden Gründen diesem Kunden zugeteilt hatte.
Fadi war der Ansicht, dass die Kunden länger blieben, wenn er »vernünftige Musik« spielte. Deshalb verlangte ihm seine Playlist, die er an seinem mächtigen Rechner verwaltete, entsprechende Konzentration ab. Sumaya hatte sich nie richtig für arabische Popmusik begeistern können, Fadi aber kannte sich aus in dem Universum aus libanesischen Hip-Hop-Bands, algerischen Rappern und irakischen Newcomer-Bands. Die meisten Kunden waren freilich Jugendliche, die an ihren Stammplätzen saßen und mit aufgezogenen Kopfhörern in Computerspielen gegeneinander antraten. Ob sie die Musik wahrnahmen, blieb ihr Geheimnis.
Sumaya wusste, dass an den Wochenenden meistens Fadis einziger Mitarbeiter, ein Deutsch-Türke namens Metin, das Internetcafé gegen Mittag übernahm und führte, bis er es gegen Mitternacht schloss.
»Metin kommt in fünf Minuten, inschah Allah «, grinste Fadi und begrüßte seine Cousine mit mehreren Küssen auf beide Wangen.
Metin war in der Tat pünktlich.
»Wir gehen Fußball spielen«, verkündete Fadi, als er kurz darauf mit Sumaya das »1001 Nacht Internet-Paradies« verließ.
»Cool«, sagte Sumaya.
Gemeinsam liefen sie zu dem kleinen Sportplatz in der Nähe seiner Wohnung, wo Fadi mit einem guten Dutzend Jungen aus dem Irak an jedem Sonntag Fußball spielte.
Fadi war ein Jahr älter als Sumaya. Sein Vater und ihre Mutter, die bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, als Sumaya drei Jahre alt war, waren Geschwister gewesen. Fadi war für Sumaya, die Einzelkind war, im Grunde ein Bruder. Abgesehen davon, dass er ihr bester Freund war. Sie bewunderte ihn aus mehr als einem Grund. Dass er im Gegensatz zu ihr Arabisch genauso gut sprach wie Deutsch, war nur einer. Aber er war in Berlin aufgewachsen, mehr oder weniger unter Arabern, während sie in der Provinz gelebt hatte, mit einem Vater, der als Arzt großen Wert auf sein nahezu und ihr absolut perfektes Deutsch gelegt hatte. Sie bewunderte Fadi aber auch dafür, dass er selten unnütze Worte machte und niemals faule Kompromisse, weswegen seine Meinung für sie sehr wichtig war.
Vor allem jedoch liebte sie ihren Cousin, weil er das absolute Gehör für alle hatte, die Sorgen mit sich herumtrugen. Fadi war groß und Fitness-Studio-gestählt; er konnte Furcht einflößend wirken, wenn er wollte. Und wenn er auch in vielen Bereichen keineswegs sanft war, in geschäftlichen Dingen etwa, kannte Sumaya niemanden, wirklich niemanden, den das Leid anderer so anrührte wie ihren Cousin. Aus einem Grund, den sie nicht kannte, erstreckte sich seine Empathie allerdings nicht auf Tiere. Fadi hasste Tiere geradezu und
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