Radikal
Lamia hatten anscheinend darauf bestanden, sie kennenzulernen. Also setzte sich Sumaya auf den Schreibtischstuhl des Abgeordneten und plauderte ein paar Minuten auf Arabisch mit den beiden, bis Fadia Latif auf dem Monitor erschien und erklärte, es sei jetzt Zeit, ins Bett zu gehen.
An jedem zweiten oder dritten Tag fragte der Abgeordnete Sumaya zudem, ob sie mit ihm essen gehen wollte, wobei sie es sich zur stillschweigenden Regel gemacht hatten, die Innenpolitik zu meiden. Aber sie sprachen über den Nahen Osten, die Revolution in Ägypten oder auch nur über Banalitäten. An den übrigen Tagen nutzte Lutfi Latif die Mittagspause für Termine und knüpfte Kontakte zu praktisch jeder und jedem, der oder die sich in der grünen Fraktion jemals mit Migration, mit der islamischen Community, mit Außenpolitik oder dem Nahen Osten beschäftigt hatte. Mindestens zweimal hatte er sich aber auch mit Parlamentariern aus anderen Parteien getroffen, die sich um diese Themen kümmerten, meistens in einem kleinen Restaurant unter dem S-Bahn-Bogen auf halbem Weg zwischen Bundestag und Grünen-Parteizentrale, das er mochte, weil es nicht zu teuer war und täglich mindestens ein vegetarisches Gericht auf der Business-Lunch-Karte führte.
Lutfi Latifs Aktivismus war umso erstaunlicher, als die übrigen Abgeordneten, wie Sumaya in kurzen Flurgesprächen mit anderen Mitarbeitern festgestellt hatte, im Moment nur wenig Präsenz und Arbeitseifer zeigten. Was wiederum daran lag, dass die Mitglieder des Bundestages noch nicht recht wussten, wer Freund war und wer Feind. Sicher, innerhalb ihrer eigenen Fraktionen sortierten sich die Flügel bereits. Aber es gab noch immer keine Regierung. Verschiedene Parteien sondierten eine Kooperation, doch diese Gespräche waren bisher nicht in Koalitionsverhandlungen gemündet. Eine wahrscheinliche Regierung zeichnete sich ab. Ob aber die Grünen sich ihr anschließen würden, stand noch nicht fest. Den einen Tag sah es ganz danach aus, am nächsten schon wieder nicht mehr.
Diese unklare Situation war Dauerthema unter den Abgeordneten ebenso wie unter ihren Mitarbeiten und in den Zeitungen. Und es war einer der Gründe dafür, dass Sumaya die Aufregung der ersten Tage wegen der Drohbriefe und des Globus – Artikels schon jetzt wie eine ferne Episode vorkamen und das Thema Sicherheit nur noch wenig Raum in der morgendlichen Kurzbesprechung einnahm, die der Abgeordnete auf 9 Uhr 30 festgesetzt hatte – und zu der er Sumaya, zu ihrer Überraschung und zu ihrem Entzücken, gebeten hatte, jeweils ein bisschen Brot, Öl und Thymian aufzutreiben, »aber nur, wenn Sie zufällig eine Bezugsquelle kennen und esIhnen nichts ausmacht, ich weiß nicht, wie Sie das sehen, aber Sa’tar ist meiner Meinung nach das beste Frühstück«. Seitdem hatte jede dieser Sitzungen damit begonnen, dass abwechselnd Sumaya und Lutfi Latif Cord Munkelmann beizubringen versuchten, wie man das Brot in handliche Stücke brach und das abwechselnde Tunken in Öl und Kräutermischung erledigte, ohne sich zu bekleckern. Cord lernte es allmählich.
Natürlich war die Sicherheitsfrage trotzdem nach wie vor ein regelmäßiger Punkt auf der internen Tagesordnung. Aber das BKA schickte an jedem Morgen immer nur dieselben drei Sätze, denen zufolge es keine neuen Erkenntnisse gab, die bestehenden Ermittlungsansätze weiter verfolgt würden und die Bedrohungslage gegen Lutfi Latif, MdB, als »unverändert hoch« eingeschätzt wurde.
Immerhin, gestern hatte Samuel in einer sehr freundlichen E-Mail an sie einen ersten Bericht für morgen angekündigt. Vielleicht, dachte Sumaya, würde er ja mehr zu berichten haben. Sie hatte kurz überlegt, ob sie ihn nicht bitten sollte, sich, anstatt eine E-Mail zu schicken, lieber persönlich mit ihr zu treffen. Doch nach einem Blick auf ihren Schreibtisch hatte sie sich dagegen entschieden. Denn den größten Teil ihrer Arbeitszeit investierte Sumaya seit fünf Tagen in einen stetig wachsenden Stapel verschiedenfarbiger Karteikarten auf ihrem Schreibtisch in ihrem kleinen Büro, in das sie mittlerweile immerhin einen der Olivenbäume von ihrem Balkon verfrachtet hatte, um es etwas freundlicher zu gestalten. Die eng beschriebenen Karten waren Teil eines Geheimprojekts, was Sumaya, wenn sie ehrlich war, zu gleichen Teilen erregte wie verstörte. Ihr war nicht entgangen, dass Lutfi Latif sich vergewissert hatte, dass Cord Munkelmann nicht im Büro war, bevor er sich ihr offenbart hatte. »Sumaya, wenn
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