Radikal
weil sie die Themen von Lutfi Latif bearbeiten? Das war anstrengend. Aber es gefiel ihr, weil sie feststellte, dass sie sich nicht in sich getäuscht hatte – dass sie gut war in dem, was sie jetzt tat.
Obwohl sie ihre Stelle erst vor gut 14 Tagen angetreten hatte, traf sie längst an jedem Tag Entscheidungen, viele davon selbstständig, weil Lutfi Latif laufend Termine hatte : mit anderen Abgeordneten, mit dem Arbeitskreis Innere Sicherheit, dann die Fraktionssitzung am Dienstag, die Sitzung des Innenausschusses am Mittwoch, Bürgersprechstunde im Wahlkreisbüro und so weiter. Manchmal begleitete sie ihn oder drückte ihm auf dem Weg zumindest noch Unterlagen in die Hand, die er brauchen würde oder könnte. Ihrwar jedoch rasch klar geworden, dass sie den Abgeordneten nicht wegen jeder Kleinigkeit behelligen konnte. Also entschied sie selbst. Nach ihrer eigenen Regel immer dann, wenn sie es sich zutraute – und zusätzlich mindestens einmal pro Tag, wenn sie sich nicht ganz sicher war.
Sumaya war froh, dass sie an der Uni im Moment nicht viel zu tun hatte, auch wenn das hieß, dass sie oft erst spätabends nach Hause kam. Sie vermisste die Gespräche mit Mina, vor allem, weil es ihrer Mitbewohnerin wegen des Streits mit Ulf immer noch schlecht ging. Aber sie war trotzdem zufrieden. Sie hatte sogar schon ein paar andere Abgeordneten-Mitarbeiter kennengelernt, die nicht arrogant waren und sie nicht spüren ließen, dass sie sich in dem Geschäft noch kaum auskannte. Die anderen ignorierte sie nach Kräften.
Es war faszinierend, Lutfi Latif dabei zu beobachten, wie er seinen Einstieg in die Parlamentsarbeit betrieb.
»Sumaya, haben Sie heute schon al-Hayat gelesen?«
»Nein, noch nicht.«
»Ich hab’s nicht genau gelesen, nur überflogen, aber die schreiben, dass die Isaf-Truppen offenbar letzte Woche in der Nähe von Kandahar das falsche Haus gestürmt haben. Es sind zwei Frauen erschossen worden, und al-Hayat meint Hinweise darauf gefunden zu haben, dass die Nato das zu vertuschen versucht hat.«
»Verstehe.«
»Genau. Lesen Sie es doch bitte nachher mal in Ruhe. Und wenn Sie das Gefühl haben, dass da was dran sein könnte, dann fände ich’s gut, wenn Sie eine kleine Pressemitteilung verfassen. Das muss untersucht werden. Tamam? «
»Klar. Mache ich.«
»Ach ja, und bitte schicken Sie, bevor das rausgeht, eine kurze Mitteilung an Mantert, ich will nicht, dass er sich übergangen fühlt. Möglichst freundlich, ›damit Sie im Bilde sind‹, so etwas in der Art.«
»Kein Problem.«
Mantert war der für Außenpolitik zuständige Sprecher der Fraktion, und es war kein Geheimnis, dass sein neuer Fraktionskollege mit seinen eigenen internationalen Beziehungen ihn nervös machte.Lutfi Latif hielt Kontakt zu ägyptischen Revolutionären, syrischen Dissidenten und libyschen Aufständischen, manchmal bekam Sumaya Teile der Kommunikation mit, und sie spürte, für wie gewaltig und historisch der Abgeordnete die Umwälzungen in der arabischen Welt hielt – und wie sehr der Mut der Menschen auf den Straßen ihn berührte. Sie verstand das gut, es ging ihr ähnlich.
»Und noch etwas …«
»Ja?«
»Sie wissen ja, es gibt auch in unserer Fraktion ein paar Kollegen, die ein Burka-Verbot durchsetzen wollen. So wie in Belgien und Frankreich.«
»Ja.«
»Wären Sie so nett und finden mal heraus, wer sich aus der Fraktion in den letzten Jahren wie dazu geäußert hat?«
»O. k.«
»Sie wissen, dass ich gegen ein Verbot bin, oder?«
»Ich weiß. Aber ich soll vermutlich nicht mit der Tür ins Haus fallen?«
»Nein, genau, auf gar keinen Fall. Wir eruieren. Dann sehen wir weiter.«
Hatte er einen Masterplan? Gab es in seinem Kopf eine Liste, die er abzuarbeiten begonnen hatte? Oder navigierte er auf Sicht, auf Zuruf, impulsiv und spontan? Sumaya erlaubte sich noch kein Urteil. Sicher war nur, dass dem Abgeordneten sein neuer Job gefiel. Er kam früher und blieb noch länger als sie und Munkelmann. Falls er erschöpft war, ließ er es sich nicht anmerken. Im Gegenteil, er schien voller Energie zu sein. Abends um halb acht – meist war er dann noch da – schloss er regelmäßig die Tür zu seinem Büro für fünfzehn Minuten. Anfangs hatte Sumaya vermutet, dass Lutfi Latif sich zum Beten zurückzog. Aber dann hatte er sie einmal hereingerufen, und sie hatte festgestellt, dass er sich mit seinen beiden kleinen Töchtern per Skype unterhielt. Offenbar hatte er ihnen von ihr erzählt, und Laila und
Weitere Kostenlose Bücher