Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Radikal

Radikal

Titel: Radikal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yassin Musharbash
Vom Netzwerk:
lagen.«
    »Und wie hat er reagiert?«
    »Er hat gesagt, dass er das nicht will.«
    »Und wieso?«
    »Ihn verbinde nichts mit Indien, hat er gesagt, der Arsch, und dass ihn andere Länder mehr interessieren würden, wenn er schon überhaupt ins Ausland gehen würde.«
    »Ihn verbindet nichts mit Indien?«
    »Genau.« Mina schnaubte wütend. »Ich, das Nichts ! Mina, das große Nichts in seinem Leben! Ich meine, ich ziehe mich da vor ihm aus, erzähle ihm meine Träume für uns beide, und er sagt einfach, er hätte mit meinem Leben eigentlich nichts zu tun.«
    »Und dann?«
    »Ich hab ihm gesagt, dass mich das verletzt, schließlich sei ich ja Inderin, und es sei doch nur fair, dass wir uns auch einmal gemeinsam Indien anschauen.«
    »Und was hat er da gesagt?«
    »›Du bist keine Inderin‹, hat er gesagt. ›Du bist Halb inderin, aber eigentlich bist du Deutsche. Und abgesehen davon kennst du dich in Indien nicht einmal richtig aus.‹«
    »Das ist echt krass.«
    Mina konnte die Tränen nun nicht länger zurückhalten. »Ich meine, klar, ich war nur zwei Monate in meinem ganzen verschissenen Leben in Indien. Ich spreche kein Wort Hindi. Stimmt ja. Na und? Was weiß er denn schon? Er versteht es einfach nicht.«
    »Vielleicht war er überrumpelt«, bot Sumaya als Erklärung an.
    »Susu, nimm ihn nicht in Schutz, bitte . Du weißt doch genau, was ich meine. Diese Kartoffeln haben kein Recht darüber zu urteilen, wer oder was wir sind. Das dürfen nur wir selbst. Wenn wir’s überhaupt können.«
    Sumaya widersprach nicht und nahm Minas Hand. Sie wusste genau, was ihre Mitbewohnerin so verletzt hatte. Es war der Fluch. Der Fluch, der darin bestand, dass das, was für einen selbst das Innerste war, für die anderen nur das Äußere war. Der Fluch, der darin bestand, dass man ihn nicht erklären konnte. Der darin bestand, dass man nicht dazugehören wollte, wenn die anderen darauf bestanden; und zugleich darauf bestand, dazuzugehören, wenn die anderen es für eine Unmöglichkeit hielten. Der Fluch, der für jeden, der ihn kannte, ein Gefängnis und ein Zufluchtsort zugleich war, tausend Möglichkeiten und keine. Der Fluch, der darin bestand, dass man nicht wusste und nie wissen würde, wer man ist.
    Halbehalbe. Das hatte sie als Kind stets geantwortet, wenn irgendjemand sie wieder einmal fragte, als was sie sich eigentlich fühle, als Palästinenserin oder als Deutsche? Sie sagte es so kalkuliert rotzig, dass sie hoffen durfte, keine Nachfragen ertragen zu müssen. Als sie älter wurde, änderte sich die Antwort. Vielleicht hing es mit ihren ersten Reisen nach Ramallah zusammen, die sie ohne ihren Vater unternahm. Jedenfalls schleuderte sie den Fragenden später mit genau derselben Attitüde ein trotziges Beides entgegen.
    Aber mittlerweile ahnte sie, dass die Wahrheit irgendwo in der Mitte lag, und dass beide Antworten im Grunde dieselbe Nichtantwort waren. Dass sie nämlich weder das eine noch das andere war, und dennoch beides. Dass eins durch zwei geteilt nicht immer zwei gleich große Hälften ergab. Dass Identität nichts mit Mathematik zu tun hatte, sondern veränderlich war, und vor allem: fragil. Verletzlich. Nie endgültig. Nie sicher. Immer in Gefahr. Ein Fluch und ein Segen, zwei Heimaten und zugleich keine, ein Versteck und zugleich ein Verließ. Sie war so voller Erinnerungen, von denen sie nicht einmal wusste, wie verlässlich sie waren. Und erfüllt von einem Heimweh nach etwas, das sie gar nicht kannte. Und da war Sehnsucht, brennende Sehnsucht – aber zugleich die Angst, sich ihr zu stellen.
    Sumaya dachte an die Sommer ihrer Kindheit, die sie ausnahmslos in Ramallah verbracht hatte. Ein Picknick mit Tanten und Onkeln und einem halben Dutzend Cousins und Cousinen, irgendwo unter Pinien, auf einem Hügel außerhalb der Stadt. Blaue Plastikkanister mit eisgekühltem Wasser. Ein qualmender Grill mit Unmengen von Kebabspießen darauf. Pinienzapfen, trockene Zweige und kleine Steine unter ihren bloßen Kinderfüßen, Kinderlachen, mütterliche Umarmungen von ihrer Tante, so willkommen. Der Geruch des Zigarettenrauchs ihrer Onkel, die ihr im Vorübergehen die Hand auf die Haare legten, Susu, ya Susu! Die Wärme der Sonne in ihren Haaren. Die Wärme der Sonne auf ihren Augenlidern, wenn sie einen Moment innehielt.
    Und ihr Vater, glücklich wie sonst nie, auf einem Klappstuhl sitzend, ein Glas Arak in der Hand, in dem die Eiswürfel klimperten, wenn er es an den Mund führte. Obwohl sie erst fünf,

Weitere Kostenlose Bücher