Radikal
vielleicht sechs Jahre alt war, spürte sie doch genau, was für eine Erleichterung es für ihn war, hier zu sein. Sich ein paar Wochen nicht alleine um sie kümmern zu müssen. Ihr Familie bieten zu können.
Sie sah sich selbst auf dem Ast eines Olivenbaumes sitzen, die Sonne ging gerade unter, die Tanten räumten die bauchigen Taschen wieder voll, die Babys waren schon eingeschlafen, die Kohle auf dem Grill glimmte noch vor sich hin. Sie hatte sich vorgenommen, sie erinnerte sich genau, diesen Moment nicht zu vergessen, mit all der Entschlossenheit eines kleinen Mädchens, und sie hatte ihn nie vergessen. War sie jemals glücklicher gewesen?
Baba, dachte sie, du warst großzügig. Du hast mir zwei Leben geschenkt. Aber ich kann nur eines leben, und das zerfrisst mich.
Denn immer, wenn sie ihren Vater sah, auch heute, wenn sie ihn besuchte oder er sie, dann musste sie nur in seine Augen sehen, die stolz und zufrieden auf ihr ruhten und doch zugleich eine andere Sumaya sahen, die es gar nicht gab, aber geben könnte oder hätten geben können, um zu wissen, dass er auf seine Weise dasselbe fühlte wie sie: dass alles auch anders hätte kommen können. Dass das Leben, das sie beide führten, hier, in Deutschland, nicht das vorbestimmte war, sondern ein Zufallsleben. Und sie wusste, dass auch er, wenn er alleine war, sich ein anderes Leben ausmalte. Wie ein schmutziges kleines Geheimnis, das reiner nicht sein konnte und doch unaussprechlich und nicht teilbar. Zahllose Stunden, in denensie beide sich das Leben ausmalten, welches sie auch hätten leben können. Das ungelebte Leben.
Und in diesem Leben war ihr Vater Notarzt in Ramallah und nicht Gefäßchirurg im Oldenburger Land. Und er behandelte die Verletzten, die aus den Reihen der Steinewerfer herausgezogen wurden, weil sie angeschossen worden waren. Und er war nicht nur der ferne Onkel, der ferne Großonkel, der ferne Cousin, der die nächtlichen Anrufe entgegennahm, die er stets vor Sumaya zu verheimlichen versucht hatte: Sie haben Qasim festgenommen. Wir haben seit drei Tagen nichts von Abdallah gehört. Hashim ist angeschossen worden. Nein, in seinem ungelebten Leben würde er stattdessen in Ramallah im Staub am Straßenrand knien und nicht hilflos sein. Er würde tun, was er könnte, um sie alle zu retten. Sie wusste, dass dies seine Gedanken waren, ohne je mit ihm darüber gesprochen zu haben, sie wusste es so sicher, wie man überhaupt irgendetwas wissen konnte. Dass dies seine Nachtbilder waren, die ihn zerfraßen. Dass er sich schuldig fühlte, weil er nicht mehr tun konnte – nicht mehr tat? –, als Worte ins Telefon zu flüstern, die die Distanz nicht überwinden konnten, und Geld für einen Anwalt zu überweisen, der nichts erreichen würde.
Und sie selbst, was wäre in jenem anderen Leben aus ihr geworden?
Sumaya hatte keine Antwort. Aber sie hätte es gerne erfahren. Nur dass sie es leider nie erfahren würde. Und das genau war ja das Schmerzhafte. Dass es sich anfühlte, als würde sie sich selbst nie ganz kennenlernen können.
Mina hatte nichts gesagt, während Sumaya unwillkürlich in Gedanken versunken war. Jetzt steckte sie sich noch eine Zigarette an.
»Susu, meinst du, wir können ihnen je trauen?«, sagte sie leise. »Ich meine, wenn sie sagen, dass sie uns verstehen. Was, wenn sie gar nichts verstehen, weil sie es nicht verstehen können?«
»Ich weiß es nicht, Süße. Ich weiß es wirklich nicht. Aber ich hoffe es.«
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VI
Manchmal war Sumayas neues Leben noch etwas unwirklich. Zum Beispiel, wenn sie Lutfi Latif morgens um 6 Uhr 30 im Deutschlandfunk hörte, während sie sich anzog und sich darauf vorbereitete, in einer Stunde in sein Abgeordnetenbüro zu fahren. Es konnte sein, dass Lutfi Latif dann etwas sagte, was sie stolz machte. Auf ihn, aber auch auf sich selbst, weil sie ihm zuarbeitete, oder, wie in diesem Fall, sogar die Gesprächsthemen für die Sendung mit ihm abgestimmt und für ihn vorbereitet hatte.
Ein Tag, eine Woche, eine zweite Woche: Die Zeit verging wie im Fluge, seit sie ihren Job angetreten hatte. Das letzte Mal, dass sich für sie so viel auf einmal verändert hatte, war zu Beginn ihres Studiums gewesen. Genau wie damals verbrachte sie auch jetzt einen großen Teil ihrer Zeit damit, sich zurechtzufinden: Wo ist Raum 3.1.78? Bei welchem Mitarbeiter der Fraktionsgeschäftsführung bekomme ich ein Organigramm samt internen Durchwahlen? Welche Referenten muss ich auf jeden Fall schnell kennenlernen,
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