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Radikal

Radikal

Titel: Radikal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yassin Musharbash
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nichts wusste. Etwas, das erklären würde, wieso Lutfi Latif sich – Merkwürdigkeit Nummer vier – noch einmal ganz anders verhalten hatte, als sie es erwartet hatte. Denn entgegen seiner Ankündigung hatte der Abgeordnete den Journalisten, die wegen der Globus – Geschichte über die Todesdrohungen angerufen und nachgefragt hatten, nicht in aller Deutlichkeit erklärt, dass er auch noch von Nazis und Islamhassern bedroht wurde. Sicher, eine vage Andeutung hatte er gemacht. Aber eigentlich hatte er nur den Kern ihrer Auswertung weitergegeben: Die Drohungen seien unkonkret. Niemand habe angekündigt, ihn persönlich umzubringen. Keine Namen von Organisationen seien gefallen. »Natürlich nehme ich das dennoch ernst. Aber ich lasse mich nicht einschüchtern, von keiner Seite.«
    So hatte Sumaya es am folgenden Tag auf dem Weg zur Arbeit in den Zeitungen nachlesen können. Sie hatte keine Ahnung, was sein Beweggrund gewesen sein könnte. Sie wusste aber, dass sie nicht die Einzige war, die sich darüber wunderte. Denn am Tag darauf – Merkwürdigkeit Nummer fünf – hatte sie unabsichtlich ein Gespräch zwischen Fadia und Lutfi Latif belauscht. Die beiden hatten offensichtlich nicht registriert, dass sie in ihrem engen Büro am Ende des Schlauches saß. Es war kein richtiger Streit. Aber Fadia Latif war aufgebracht, und in ihrer Stimme mischten sich Sorge und Wut.
    »Wieso, Lutfi? Jetzt, wo dir jeder zuhört – hätte es eine bessere Gelegenheit gegeben, den Leuten klarzumachen, was sich da zusammenbraut?«
    »Nein, du täuschst dich, Habibti , gerade jetzt war keine gute Gelegenheit.«
    »Ach ja?«
    »Ja, das reicht noch nicht. Ich brauche noch mehr.«
    »Warte nicht zu lange.«
    Sumaya hatte nicht verstanden, worauf Lutfi Latif anspielte. Wovon brauchte er noch mehr? Aber sie fühlte wie Fadia Latif: Wieso hatte er die Gelegenheit verstreichen lassen, auf die Drohbriefe dieser Islamhasser hinzuweisen?
    Auch Fadi, dachte sie betrübt, hätte wahrscheinlich anders reagiert, wenn er gewusst hätte, dass der Abgeordnete von Islamhassern beschimpft und bedroht wurde.
    »Na Susu, gerade erst angefangen und schon Islamisten jagen?«, hatte er stattdessen zu ihr gesagt, als sie am vergangenen Freitag aufdem Nachhauseweg doch noch ins Internetcafé gegangen war. Seine Worte hatten ihr einen Stich versetzt.
    Fadi bemerkte es sofort. »Susu, Habibti , so habe ich es nicht gemeint!«
    »Wie denn?«
    »Ich weiß es nicht. Susu, es geht überhaupt nicht um ihn oder um dich. Ich bin bloß wütend.«
    »Wieso bist du wütend?«
    Fadi zeigte ihr einen Aufkleber, groß wie ein DIN – A4-Blatt. Er war mit arabischer Schrift bedruckt. »Allah ist kleiner«, las Sumaya.
    »Das hing an der Wand der Moschee«, sagte Fadi tonlos und zeigte ihr seine verkrusteten Fingernägel und verschrumpelten, geröteten Handflächen. »Zweihundert Stück davon. Wir haben den ganzen Tag gebraucht, sie alle abzumachen.«
    »Fadi!«
    »Ist ja gut, Susu. Ist ja gut.«
    ***
    Eine der Legenden, die man sich auf den Fluren des Globus gelegentlich erzählte und dabei mit selbst erfundenen Details ausschmückte und von der Merle Schwalb nie gewusst hatte, ob sie stimmte oder nicht oder wenigstens halb richtig war, betraf drei Flugzeugsessel. Arno Erlinger, der inoffizielle Chef der Drei Fragezeichen, so ging diese Legende, saß einmal auf dem Flughafen von Dubai fest: Emirates hatte die Business Class überbucht. Verzweifelt suchten die Airline-Angestellten nach Freiwilligen, die 24 Stunden später als gebucht nach Berlin fliegen würden, als Kompensation boten sie einen Freiflug erster Klasse an ein beliebiges Ziel, eine Nacht im Fünfsternehotel und einen Duty-Free-Einkaufsgutschein in Höhe von 500 Dollar. Die Reihe kam an Erlinger. Würde Erlinger auf das Angebot eingehen? Natürlich nicht: 24 Stunden Verspätung waren indiskutabel. Freiflüge ebenso: Er hatte längst mehr Meilen gesammelt, als er verfliegen konnte. Aber andererseits … Erlinger, der vielleicht einfach einen guten Tag hatte, sagte jedenfalls zu den Airline-Angestellten: » No problem . Aber Ihr Angebot interessiert michnicht. Wir machen was anderes: Sie senden mir drei ausgemusterte Flugzeugsessel aus Ihrer Ersten Klasse in mein Büro, für mich und meine Kollegen. Deal?« – »Deal!« So ging die Legende.
    Und an diesem Tag, an dem Merle Schwalb zum ersten Mal in ihrem Berufsleben beim Globus den Trakt im 17. Stock betrat, der den Drei Fragezeichen vorbehalten war,

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