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Radikal

Radikal

Titel: Radikal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yassin Musharbash
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Sie vielleicht einen Moment Zeit hätten, es gibt da etwas zu besprechen …«
    Sie merkte, dass es ihm unangenehm war, ihr zu verraten, worum es ging. Warum? Hatte er Sorge, sie könne ihn für einen Karrieristen halten? Nach einer Kunstpause war er fortgefahren: Sollten die Koalitionsverhandlungen zu der Regierung führen, nach der es im Moment aussah, und sollten die Grünen sich ihr anschließen, was keineswegs ausgeschlossen war – eine weitere Pause –, dann könnte es sein, dass man ihn bitten werde, das neu zu schaffende Amt einesBeauftragten der Bundesregierung für Deradikalisierungs-Projekte zu übernehmen. Und ich glaube, Sumaya, ich sollte es dann auch annehmen. Um für diesen Fall vorbereitet zu sein, so hatte er weiter erklärt, wäre es gut, wenn ein paar Gedanken bereitlägen: »Sie können sich sicher denken, was ich meine, ein Überblick darüber, was andere Länder in dieser Hinsicht schon machen, eine Aufstellung der wichtigen Experten in diesem Bereich, ein paar wichtige Aufsätze und Bücher vielleicht. Und darum würde ich Sie gerne bitten …«
    Sumaya brauchte den Abgeordneten nur anzusehen, um zu erkennen, wie sehr ihn dieser Posten reizte. Sie hätte gerne gewusst, ob Lutfi Latif sich das Amt vielleicht sogar selbst ausgedacht hatte. Doch das war nicht Teil seiner Offenbarung von vor fünf Tagen gewesen. Seitdem aber ergänzte Sumaya ihren Stapel von Karteikarten in jeder freien Minute ihrer Arbeitszeit: Auf den grünen Karten stand, welche Projekte andere Länder betrieben, um Radikale zu entradikalisieren – und er hatte ihr nicht erklären müssen, dass es vor allem um Dschihadisten gehen würde, aber sicher nicht nur, sondern auch um andere Radikale. Auf den gelben hatte sie Fachleute aufgelistet, zusammen mit Stichworten zu ihren Positionen. Sie hatte sichergestellt, dass auch arabische Experten vertreten waren. Auf den blauen Karten hatte sie Zitate aus Aufsätzen von Lutfi Latif festgehalten, die das Thema berührten, um zu sehen, worauf er aufbauen könnte. Auf den roten Karten schließlich: unsortierte Ideen, die man darüber hinaus aufgreifen könnte.
    Mit dieser Aufgabe würde Sumaya auch einen großen Teil des heutigen Tages bestreiten. Das zumindest war ihr Plan. Sie wollte gerade in der Bundestagsbibliothek und beim Wissenschaftlichen Dienst Bestellungen aufgeben, als sie Schritte hörte, und kurz darauf, wie eine Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Zwei Wochen nur, dachte sie, aber schon kann ich an der Schrittfolge ablesen, dass es Cord ist, der ins Büro kommt. Und mit ihm treten ein: die Gedanken, die ich gerne noch ein wenig länger verdrängt hätte. Die Erinnerung daran, dass nicht alles eitel Sonnenschein war, sondern dass auch im Büro von Lutfi Latif über einigen Angelegenheiten Schatten lagen.
    Sumaya hatte immer noch keine Ahnung, was sie von ihrem Kollegen denken sollte. Vor allem nicht nach dem, was Lutfi Latif ihr erzählt hatte. Nein, nicht vor allem, korrigierte sie sich. Auch deswegen. Aber vor allem dessentwegen, was Cord selbst getan hatte. Warum, fragte sich Sumaya, hatte in diesem Büro offenbar jeder irgendein Geheimnis? Oder sogar mehrere, genau betrachtet. Mittlerweile hatte ja auch sie selbst eines, und sie wusste nicht einmal, warum. Nur um auch eines zu haben? Jedenfalls hatte sie beschlossen, Lutfi Latif nicht von Cords schmutzigem Spiel in ihren ersten Arbeitstagen zu berichten. Davon namentlich, dass Cord diejenigen Drohungen gegen den Abgeordneten, die nicht von Islamisten stammten, von ihrem Schreibtisch hatte verschwinden lassen. Zuerst war sie empört gewesen. Sie hatte Cord sofort konfrontieren wollen. Es konnte schließlich nur er gewesen sein.
    Aber in dem Moment, in dem sie den Entschluss gefasst hatte, ihn zur Rede zu stellen, stand er plötzlich im Türrahmen zu ihrem Büro, schlaksig, freundlich, die Unschuld in Person, und er sprach mit einer so besänftigenden Stimme, dass sie an einen Imker denken musste, der seinen Bienen zuredete: »Entschuldigung Sumaya, du hast dich vielleicht schon gewundert, dass ich an deinem Schreibtisch war, aber ich wollte die Zuschriften einfach noch einmal schnell kopieren, ich hatte dir nämlich aus Versehen die Originale hingelegt, die sollen aber natürlich in die Ablage.«
    »Ah, o.   k. Ich hatte mich, ehrlich gesagt, schon ein bisschen gewundert.«
    »Tut mir leid, das nächste Mal sag ich dir vorher Bescheid. Es ist halt alles noch etwas chaotisch hier. Aber ich schätze, wenn

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