Radikal
dunkelblonden Haare in dicken Strähnen ungebändigt in alle Richtungen fielen oder abstanden. Das rote Polo-Shirt spannte über seinem massiven Bauch. Wer ihn nicht kannte, hielt Kai für einen eher simplen Menschen. Tatsächlich war er einer der schnellsten Denker, die Samson kannte.
Sie waren nie Freunde geworden, jedenfalls nicht im eigentlichen Sinne. Aber als Mitbewohner hatten sie sich gut verstanden, kein Streit wegen der Telefonrechnung, keine Kompliziertheiten bei den gemeinsamen Einkäufen am Samstag, ein freundliches Lächeln und vorzeigbare Manieren, wenn die Eltern des anderen zu Besuch kamen und man sich gegenseitig mit Laken und Bettzeug aushalf. Kai hatte damals in Hamburg Politikwissenschaft und Jura studiert. Drei Wochen nach seinem Examen, Kai suchte gerade nach möglichenJobs und Samson schrieb noch an seiner Magisterarbeit, klopfte er eines Nachmittags aufgeregt an Samsons Zimmertür: »Komm rüber, sofort !«
Gemeinsam sahen sie auf CNN mit an, wie der zweite Turm einstürzte, und blieben sitzen, stundenlang, ohne viele Worte. »Ich glaube, niemand wird diesen Enya-Song jemals wieder hören können, ohne an heute zu denken«, sagte Kai, und Samson nickte.
Einige Wochen später trat Kai eine Stelle als Auswerter beim Hamburger Verfassungsschutz an. Allerdings weniger, weil die noch qualmenden Trümmer am Ground Zero ihn dazu bewegt hatten, sondern eher, weil das Landesamt plötzlich Stellen zu vergeben hatte, neue Stellen, die es zuvor nicht gegeben hatte, Arabischkenntnisse hilfreich, aber keine Voraussetzung, Verbeamtung wahrscheinlich. Und Juristen, das sprach sich schnell herum, hatten eine besonders gute Ausgangsposition bei der Bewerbung. So war Kai überhaupt darauf gekommen, denn die Headhunter des Verfassungsschutzes wandten sich ohne jede Scheu direkt an die Professoren, von denen nicht wenige das Angebot brühwarm an ihre Studenten weiterreichten. Als Erstes musste Kai einen einmonatigen Lehrgang an einem Ort absolvieren, den er nicht nennen durfte. Der Abschied von seinem Mitbewohner war unzeremoniell. Kai fragte Samson nicht nach seiner Meinung, und Samson bot keine an.
Als der Lehrgang beendet war, kam Kai zurück in die gemeinsame Wohnung. Er wollte seinen Auszug vorbereiten und hatte Samson in der Woche zuvor schon gebeten, das frei werdende Zimmer an den Schwarzen Brettern auf dem Campus zu inserieren. Es war am frühen Nachmittag. Kai öffnete die Tür. Er konnte nicht wissen, ob er Samson vorfinden würde oder nicht. Aber auf keinen Fall konnte er damit gerechnet haben, seinen Mitbewohner in diesem Zustand anzutreffen.
Samson saß am Küchentisch vor wilden Stapeln ausgeschnittener Zeitungsartikel in mehreren Sprachen, die fast alle mit Bildern des getroffenen World Trade Centers oder von Osama Bin Laden oder den Attentätern illustriert waren. Von der Wand hatte Samson in Kais Abwesenheit alle Poster und Bilder entfernt und stattdessen mit Wachsmalkreide direkt auf dem Putz ein gigantisches Diagramm der Verschwörung aufgemalt. Die bunten Pfeile führten von Saudi-Arabien nach Afghanistan, von dort nach Hamburg und zurück, und schließlich weiter in die USA . Auf gelben Post-it-Aufklebern waren Daten und Orte von Treffen notiert. In der Wohnung verteilt standen nicht ausgetrunkene oder ausgetrocknete Kaffeetassen.
Kai war sofort klar, dass es Samson sehr schlecht ging. Aber weil er nicht nur ein schneller Denker war, sondern zudem der bisher einzige Leser der ersten Fassung von Samsons noch nicht fertiggestellter Magisterarbeit, zog er innerhalb von weniger als einer Minute den richtigen Schluss. Er holte sich einen Stuhl heran und setzte sich langsam neben seinen Noch-Mitbewohner, wie um ihn nicht zu verschrecken.
»Samson?«
Keine Reaktion.
»Samson, das ist jetzt wichtig. Hat dein Prof oder sonst wer außer mir schon deine Arbeit gelesen?«
Langsames Kopfschütteln.
»Samson, hast du außer auf deinem Laptop Kopien davon?«
»Nein.«
»O. k. Hör mir gut zu. Dann gehe ich jetzt zwei Stunden Kaffee trinken. Du weißt, was du zu tun hast .«
Das war es, was sie verband. Das, und dass Samson sicher war, dass Kai niemals jemandem etwas darüber erzählt hatte oder erzählen würde. Auch wenn er nicht wusste, warum.
»War doch eine gute Wahl, der Eisstand, oder?«, fragte Kai gut gelaunt, als Samson bis auf ein paar Schritte herangekommen war. Er reichte ihm eine Waffel mit Schokoladeneis. Sie entschieden sich für den Weg, der zum Großkatzenhaus führte,
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