Radikal
fehlenden Namen der Attentäter, das Auslassen der Prahlerei über die Sprengstoffmenge und das Schweigen über ihre sorgfältige Vorbereitung?
Oder doch eher die Art und Weise, wie er überhaupt an das Video gekommen war?
Nachdem er Sumaya und Merle in sein Arbeitszimmer gebrachthatte, hatte er als Erstes die Großen Drei gecheckt: die drei von al-Qaida autorisierten Websites, die drei Schlüssellöcher ins Allerheiligste, die drei schwärzesten aller Schwarzen Bretter, auf denen die unbestritten authentischen Bekennerschreiben, Videos und Audiobotschaften erschienen, alles mehrfach abgesichert, nach einem seit Jahren eingespielten Verfahren, das Fälschungen praktisch unmöglich machte.
Aber hier hatte er das Video nicht gefunden. Er hatte auch gar nicht damit gerechnet. Schließlich kannte al-Qaida normalerweise keine Hast, wenn es darum ging, sich zu bekennen.
Also hatte er als Nächstes die informellen Zirkel angezapft, zu denen er Zugang hatte, in der Hoffnung, dort Hinweise auf mögliche Hintermänner zu finden: Internet-Chatrooms, in denen er seit Jahren seine dschihadistischen Avatare mit ihren Heldentaten prahlen ließ und wo er die klandestinen Tauschringe mit immer brutaleren Anschlagsbildern und Enthauptungsvideos befeuern half, um nicht aufzufliegen. Vier Identitäten, vier Legenden, vier Chatrooms: Griffbereit vor seinem heißen Rechner lag stets eine Batterie kleiner, schwarzer Notizbücher, in denen er für seine digitalen Alter Egos Tagebuch führte, damit sie einander nur gelegentlich, sich selbst aber nie widersprachen, damit sie nie denselben Link zweimal versandten und niemals demselben Bruder dieselbe Frage wortgleich ein zweites Mal stellten.
Hier, in einem dieser Chatrooms, in dem etwa zwei Dutzend in der Wolle gefärbte Irak- oder Somalia- oder Afghanistan-erprobter Dschihadisten aus verschiedenen Ländern verkehrten, hatte einer von ihnen, Muhibbel IRHAB 2004 , ihm den Link zu dem Bekennervideo zukommen lassen. Ohne jeden Kommentar. Ein leises Ping. Dann hatte der »Liebhaber des Terrors« sich ausgeloggt. Samson vermutete Muhibbel IRHAB 2004 seit einiger Zeit in Amsterdam, jedenfalls nicht unbedingt in Deutschland, doch das war Spekulation. Sicher war nur, Muhibbel IRHAB 2004 verfügte über einen Link zu dem Video. Aber was hieß das? Leider nicht viel.
Das Internet war eine Börse, die nur wenige Anbieter, aber sehr viele Zwischenhändler kannte – und unendlich viele Abnehmer. Sicher, Muhibbel IRHAB 2004 könnte der Täter sein. Er könnte der Mann auf dem Video sein. Oder der Mann hinter der Kamera.Aber er konnte auch der beste Freund von einem der beiden sein. Oder auch nur der beste Freund vom zweitbesten Freund eines der beiden. Oder der zweitbeste Freund vom drittbesten Freund eines der beiden. Und in jedem dieser Fälle hätte er den Link innerhalb von Minuten erhalten, und in jedem dieser Fälle nicht als Einziger. Trotzdem wäre er nah dran gewesen an den Tätern. Aber Nähe ist im Internet relativ, wenn man einen Link in zehn Sekunden an unendlich viele Leute senden kann. Seinen Notizen zufolge hatte Samson den Link um 10 Uhr 44 erhalten, fast exakt zwei Stunden nach dem Anschlag. War das schnell? Oder langsam? Wie viele Glieder lagen zwischen ihm und den Tätern?
Es ist echt.
Nein. Es muss nicht echt sein!
Samson, worauf willst du hinaus?
123 Minuten: Samson schloss die Augen und stellte sich vor, wie ein bärtiger Mann an einem Freitagmorgen um 8 Uhr 30 mit einem Teeglas in der Hand das 2 TV – Morgenmagazin anschaut. 8 Uhr 41: der Anschlag, live im Fernsehen. Um 9 Uhr weiß der Mann vor dem Fernseher, der vielleicht ja zufällig gerade einen Laptop auf dem Schoß hat: Es gab Tote. Er weiß, Lutfi Latif ist im Krankenhaus. Er ist ein Dschihadist. Er hasst Lutfi Latif. Denn das ist der Mann mit den besten Argumenten gegen alles, woran er glaubt und was er denkt und tut. Er freut sich. Er hätte ihn selbst gerne getötet, das ist sein erster Gedanke. Und sein zweiter: Vielleicht habe ich ihn ja getötet! Er erschrickt über seinen Gedanken. Was für eine Anmaßung! Aber dann denkt er: Was, wenn jeder das glauben würde?
Der Mann nimmt eine Videokamera und ein Stativ aus dem Schrank und geht in den Keller seines Mietshauses in Bonn oder Hamburg oder Ravensburg oder Peine, egal. Im untersten Fach eines Kellerregals mit den Andenken aus dem Irak sucht und findet er seine Al-Qaida-Fahne. In der Kommode hat er noch dickes Klebeband. Einen Block und einen Stift hat
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