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Radikal

Radikal

Titel: Radikal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yassin Musharbash
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über den Kopf in die Hände drücken, nämlich auch wirklich ein al-Qaida-Mitglied, das ich nach Guantanamo bringen kann – egal, was er dazu sagt oder was andere dazu sagen oder was die Pakistaner dazu verschweigen. Weil ich es ja besser weiß. Weil es ja reicht, was ich weiß, auch wenn ich gar nichts weiß.
    Normalerweise schenkte dieser Gedanke Samson eine gewisse innere Ruhe: die Vorstellung, dass er immerhin seinen Teil dazu beitrug, dass nicht alles durcheinandergeworfen wurde. Aber heute war es anderes, alles war anders. Es war, als habe er ein Passwort vergessen. Oder eines der Notizbücher mit einer seiner Legenden verlegt.
    Wieso machst du dir die ganze Zeit etwas vor? Dass es irgendeinen Sinn hat, was du den ganzen Tag über tust? Dass du irgendetwas verstehst?
    Sein heißer Rechner gab wieder ein leises Ping von sich, aber Samson rührte sich nicht. Er war selbst erstaunt, wie leicht es ihm fiel, nicht an seinen Rechner zu stürzen, sondern einfach an dem kleinen Fenster stehen zu bleiben, den Blick auf den Turm der Samariterkirche gerichtet, deren Spitze allmählich mit dem dunkler werdenden Blau des Himmels verschwamm. Leise drang das Ki-ki-ki eines Turmfalken an sein Ohr, der gerade aus einem der kleinen Fenster flog und sich nach oben schwang.
    Samson hatte geahnt, dass es nicht mehr lange dauern würde. Er hatte es im Grunde gewusst, seit er zum ersten Mal diese Hände im Abendlicht gesehen hatte, die wie aus schönem, leichtem Holz geschnitzt aussahen, trocken und weich und warm und gerade so geformt, dass er sich seine Hand darin vorstellen konnte, oder sein Gesicht. Als er im warmen Sand am Badeschiff neben ihr gestanden hatte, war er schon kurz davor gewesen. Er hatte es sich schon ausgemalt, wie er beginnen würde. Sumaya, ich muss dir etwas erzählen. Eigentlich interessiert mich das alles gar nicht. Sumaya, ich bin da in etwas reingerutscht. Ist eine lange Geschichte. Sumaya, ich hab Scheiße gebaut, hilf mir da raus. Doch irgendein Teil von ihm hatte ihn zurückgehalten. Aber nun würde er es nicht länger aufschieben. Der Moment der Beichte rücktenäher. Und er hatte mindestens genauso viel Angst davor, wie er sich danach sehnte.
    ***
    Mina war gerade vom Balkon ins Wohnzimmer gegangen, um Kerzen zu holen, als Sumayas Handy anzeigte, dass eine SMS eingegangen war. »Sumaya, ich möchte heute Abend nicht alleine sein. Kann ich vorbeikommen?«
    Was sollte sie antworten? Sie war erschöpft, verwundet, leer geweint und unendlich traurig. Es tat gut, bei Mina zu sein, ohne viel sprechen zu müssen. Aber wenn es ihm wie ihr ging? Wenn die Bilder des Anschlags auch auf ihn einprasselten, sobald er die Augen schloss – nur dass er allein war?
    Aber da hatte sie schon längst geantwortet: »Natürlich.«
    »Danke. Ich brauche 20 Minuten.«
    Das war vor vier Stunden gewesen. Nun war es drei Uhr am Morgen, und sie sah ihn an, wie er, in ein Laken gewickelt und zusammengekauert wie ein Embryo, auf der Matratze lag. Samson, das Rätsel. Samson, der Ernsthafte. Samson, der Zweifler. Aber ihr gefiel Samuel besser. Samuel, der sich ihr offenbart hatte. Lag es daran, dass er in so tiefen Zügen atmete und so ruhig schlief? Oder schlief er immer so? Auch wenn ihn die Erinnerungen plagten und die Angst? Und das, was er für Schuld hielt?
    »Hey, natürlich ist das in Ordnung«, hatte Mina gesagt, als sie ihr mitgeteilt hatte, dass Samuel gleich noch kommen würde. »Ihr wart beide da. Es tut dir bestimmt gut, mit ihm zu reden. Aber ich bleibe auf dem Balkon, o.   k.? Dann kann ich noch eine rauchen und mir überlegen, ob ich Ulf morgen zurückrufe.«
    »Danke Mina, für alles.«
    »Susu, ich bin deine Freundin, klar?«
    Und dann hatte es auch schon geläutet.
    Sumaya hatte aus den Minzblättern, die sie vor ein paar Tagen gekauft hatte, Tee gekocht, und Samson nahm das Tablett mit der Kanne, der Kerze und den zwei kleinen Gläsern, die sie beim letztenBesuch aus Ramallah mitgebracht hatte, und folgte ihr in ihr Zimmer. Sie setzten sich auf den Fußboden, nebeneinander, ihre Rücken an die Kante ihres Bettes gelehnt, und blickten in den Schein der Kerze.
    »Sumaya«, hatte er begonnen, »es tut mir so leid, ich …«
    Aber sie hatte ihn unterbrochen. »Sag nichts, o.   k.?«
    »O.   k.«
    Eine Stunde lang hatten sie so gesessen. Und irgendwann hatten sich ihre Hände gefunden. Das war noch vor dem Beginn seiner Beichte gewesen. Aber auch danach hatte sie seine Hand nicht wieder losgelassen. Sie war

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