Radikal
groß und warm, und sie fühlte sich gut an.
Beichte : Er hatte es so genannt. Sumaya beobachtete sein schlafendes Gesicht. Den Dreitagebart, die dichten Brauen, die markanten Wangenknochen, die ihn viel entschiedener aussehen ließen, als er war, wie einen Eroberer oder Feldherrn. Die weichen Wimpern. Es war schön, ihn schlafen zu sehen. Wenn er schlafen kann, dann kann ich gleich auch schlafen.
Er hatte nicht gewagt, sie anzusehen, nachdem er endlich begonnen hatte. Sein Blick blieb auf die Flamme der Kerze gerichtet. Seine Stimme tastete sich leise und vorsichtig durch das Halbdunkel wie ein Ausbrecher. »Sumaya, es gibt etwas, das ich dir erzählen will. Ich muss es einfach jemandem erzählen.«
»Ich hör dir zu.«
»Es ist schon ziemlich lange her. Über zehn Jahre. Aber ich denke jeden Tag daran, weil es mich nicht loslässt.«
»Fang einfach an.«
»Ich habe in Hamburg studiert. Islamwissenschaften mit Ethnologie im Nebenfach. Ich wollte in meiner Magisterarbeit beide Fächer verbinden. Also habe ich mich entschieden, über junge Muslime in Hamburg zu schreiben.«
»Das leuchtet ein.«
»Kurz bevor ich mich für ein Thema entscheiden musste, hatte ich bei meinem Betreuer ein Hauptseminar zum Thema Theorien des Dschihad. Das war interessant. Und ich habe mir gedacht, ich mache etwas dazu.«
Eine Pause entstand. Sumaya sagte nichts, was auch? Sie hielt seine Hand. Das musste reichen.
Und es reichte auch, denn Samson seufzte kaum vernehmlich und hob wieder an. »Man studiert ja nicht Islamwissenschaften, wenn man Angst vor Muslimen hat oder nichts mit ihnen zu tun haben will. Eher das Gegenteil, sozusagen. Unter uns Studenten herrschte jedenfalls Einigkeit, dass Muslime unfair behandelt werden und ungerecht dargestellt werden. Das war diese Zeit, weißt du, mit diesen plakativen Titelgeschichten im Argus und was weiß ich noch wo, »Deutschland unterm Schleier« und diese Sachen. Überall nur Islamisten und zwangsverschleierte Frauen. Uns hat das aufgeregt. Mich hat das aufgeregt. Diese Übertreibungen, und wie undifferenziert das war.«
»Ich weiß, was du meinst.«
»Also habe ich beschlossen, meine Magisterarbeit über junge Muslime in Hamburg zu schreiben, die alle diese Klischees erfüllten. Die vom Dschihad redeten, die einen Bart hatten und in deren Moscheen diese ganzen umstrittenen Wanderprediger aus Marokko oder Palästina oder dem Irak auftauchten. Ich wollte wissen, was die wirklich denken. Ich war mir sicher, dass das alles ganz normale Typen sind, die in Wahrheit ganz andere Probleme haben als den Dschihad.«
»Verstehe.«
»Ich habe mir eine Moschee ausgesucht. Am Steindamm. Eine richtig hässliche, runtergekommene Moschee in der Nähe vom Hauptbahnhof, wo ich mit der S-Bahn gut hinkam. Da habe ich ein paar junge Männer angesprochen, die ungefähr in meinem Alter waren. Ich hab ein bisschen mit ihnen geredet und bald gemerkt, dass sie auf jeden Fall Religion ernst nahmen. Also hab ich sie gefragt, ob ich sie in regelmäßigen Abständen begleiten und besuchen und interviewen darf. Sie waren erst skeptisch. Aber einer von ihnen, er hieß Mohammed, hat sofort gelächelt und Ja gesagt, und die anderen haben sich ihm angeschlossen. Also habe ich sie anderthalb Jahre begleitet. In die Moscheen, und später, als sie sie gründeten, in ihre Islam- AG an der Uni, ich war sogar bei ein paar Hochzeiten und Verlobungsfeiern dabei und sehr häufig in der WG von Mohammed. Ich hatte ziemlich bald ziemlich viel Material undhatte ein gutes Gefühl bei der Arbeit, weil alles zu meiner These passte: Sie sprachen tatsächlich ziemlich häufig vom Dschihad, von den Tschetschenen und den Palästinensern und so weiter, aber gleichzeitig studierten sie brav und jobbten und redeten genauso viel über Sport und machten Witze und so oder hatten auch einfach mal bloß Heimweh. Es passte alles, verstehst du? Sie fühlten fast von allen Seiten Druck: Von den Deutschen fühlten sie sich diskriminiert. Von ihren Familien zu Hause wurden sie gleichzeitig unter Druck gesetzt, sich ja nicht zu verwestlichen. Sie wussten, dass sie privilegiert waren. Aber der Imam erzählte ihnen jeden Freitag, dass sie auch an alle anderen Muslime denken mussten. Und bei all diesen Problemen half ihnen das Reden vom Dschihad. So habe ich das empfunden. Am besten habe ich mich mit Mohammed verstanden, auch wenn der immer mal wieder monatelang weg war, wegen irgendwelcher Praxisprojekte und so, aber dann habe ich in der Zeit halt mit
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