Radikal
war, dass sie das Haus verlassen hatte, stand er auf und trat voller Wucht gegen den Fernseher, der von der Obstkiste, auf der er gestanden hatte, auf den Boden fiel, wo die Mattscheibe zerbarst.
»Scheiße!«
Er sah sich um. Dann ging er zu der Wand neben der Tür, riss den Feuerlöscher aus seiner Befestigung und hieb damit so lange auf den Fernseher ein, bis leise zischend Löschschaum aus dem verbeulten Feuerlöscher auszutreten begann.
»Verdammte Scheiße!«
Nachdem er sich abreagiert hatte, setzte er sich wieder auf den Drehstuhl und holte den Whiskey und sein Glas aus dem Rollcontainer.
Er hatte keine Ahnung, wie oft er das Video jetzt schon angesehen hatte. Sechsmal? Siebenmal? Aber er konnte sich nicht konzentrieren, denn jedes Mal, wenn der Vermummte zu sprechen begann, sah er plötzlich Mohammed vor sich. Der Mann konnte unmöglich Mohammed sein. Mohammed war viel größer. Mohammed hätte sich niemals vermummt oder seine Stimme verzerrt. Und vor allem war Mohammed tot. Aber Mohammed war trotzdem da und ließ sich nicht verscheuchen.
Verdammt, ich hatte doch kaum Zeit!
Samson schloss die Augen und spürte dem Whiskey nach, der langsam seine Kehle hinunterrann.
Beruhig dich.
Vergiss Mohammed und all das, wenigstens für den Moment.
Konzentrier dich!
Was hast du?
Ich habe eine Menge glückliche Leute, fasste Samson für sich zusammen. AbuYaqub glaubt sogar, dass ich es gewesen bin, und gratuliert mir! Die anderen sind beeindruckt: Mit Video! Gut vorbereitet! Und live im Fernsehen, wallahi, das wird den Schrecken vervielfachen, sie werden zittern, sie werden heute Nacht schlecht schlafen, die Kuffar! Die Besserwisser tönen, sie hätten es kommen sehen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Mudschahidin in Deutschland aufgeweckt werden! Bis jemand die Worte der Scheichs an den abtrünnigen Heuchler Lutfi Latif umsetzen würde! Die Dummen jubeln schon über Lutfis Tod, weil sie keine Nachrichten sehen, typisch. Die Nachdenklichen sagen: Ob er stirbt oder nicht, ist egal, das Zeichen zählt. Und alle, alle miteinander freuen sich über die Folgen: Einige werden sich uns anschließen, noch mehr werden gegen uns sein, aber das hilft uns, denn alles was die Fronten sichtbarer macht, ist gut. Wallahi, das war der Schlachtruf, ihr habt es gehört Brüder, es geht los! Eine gesegnete Zeit hat begonnen!
Aber jubelnde Sessel-Dschihadisten waren nichts Besonderes, die bejubelten auch Stromausfälle in den USA , das war zu erwarten gewesen.
Was er hingegen nicht gefunden hatte, waren Hinweise, die ihm weiterhalfen. Samson startete das Video ein weiteres Mal. Dieses Mal gelang es ihm, Mohammeds Adlernase und seinen stechendenBlick wegzuschieben. Jedenfalls fast. Er zwang sich, das Band so distanziert wie möglich zu analysieren.
Sah der Mann aus wie ein echter Dschihadist? Ja. Alle Insignien waren korrekt, von der Fahne bis zur Vermummung schien alles stimmig. Und der Inhalt? Auf den ersten Blick nichts Auffälliges. Vielleicht ein paar Koranzitate weniger als er vermutet hätte, aber durchaus im Rahmen. Korrekte Wiedergabe der al-Qaida-Führer. Brigade Abu Laith al-Libi? Absolut denkbar. Warum nicht? Al-Libi war 2008 durch eine US – Drohne getötet worden. Es wäre nicht das erste Mal, dass al-Qaida eine angebliche Brigade nach einem ranghohen Märtyrer benannte.
Und der Bezug auf Lutfi Latif? Ja, auch der passte. Das war es ja gerade. »Wir aber halten unsere Versprechen.« Wieso hatte er nicht das in seinen Bericht geschrieben? Wieso nicht? Es wäre so einfach gewesen: »Herr Latif, das muss man ernst nehmen – so ernst, dass ich mir gut ausmalen kann, wie sie in einen Anschlag geraten, und anschließend in einem Video irgendjemand sagt: Wir aber halten unsere Versprechen .« Aber das hatte er nicht gesagt. Und auch nicht in seinen Bericht geschrieben.
Sein Magen verkrampfte sich. Und mit den Krämpfen kam prompt eine weitere Erinnerung an Mohammeds schwarze Augen.
Bleib ruhig!
Du kannst dich immer noch selbst fertigmachen, wenn du mehr weißt!
Aber bis dahin konzentrier dich!
Samson starrte auf den Zettel vor ihm, auf dem er die dem Video entnommenen Fakten notiert hatte. Es waren nur wenige Stichworte. Er sah sie sich genauer an und stellte systematisch fest, dass das Band keinerlei Täterwissen enthielt. Der Sprecher teilte nichts mit, was nicht jeder innerhalb von 20 Minuten nach dem Anschlag auf Spiegel Online hätte erfahren können. War es das, was ihn so irritiert hatte: die
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