Radikal
in dem zwischen Fahrradständern und einer rostigen Kinderrutsche allerlei Bäumchen und Topfpflanzen in angemalten Blecheimern durcheinanderstanden, als habe ein Riese sie nach dem Würfeln vergessen. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal um sechs Uhr morgens wach gewesen war, ohne zuvor eine Nacht durchgearbeitet zu haben. Es war schon hell, aber die Sonnenstrahlen reichten noch nicht bis zu ihm heran. Er fröstelte ein wenig in seinem T-Shirt und war froh, dass er sich eine Tasse Tee gemacht und mit nach draußen genommen hatte. Niemand außer ihm schien schon auf zu sein, weder in der Wohnung noch sonst irgendwo im Haus, aber das war kein Wunder, schließlich war es Samstag. Nur ein paar Vögel waren zu hören, und im Innenhof reckte sich träge eine braun gescheckte Katze. Am Himmel stand keine einzige Wolke.
Samson schloss die Augen. Es würde ein heißer Tag werden. Ein langer und schwieriger Tag. Aber noch war es nicht so weit. Noch hatte der Tag nicht richtig begonnen, und er würde die Ruhe genießen und dieses neue Gefühl von Frieden, mit dem er aufgewacht war. Ein Gefühl, das er sonst nur vom Tauchen kannte. Friedlich wie ein Morgen auf einem Tauchboot vor dem ersten Tauchgang, wenn seine Lippen schon nach Salz schmeckten und die Luft nach Sonnencreme und den eingetrockneten Algen an den Schiffswänden roch. Oder wie das Gefühl beim ersten Panoramablick durch die Maske unter Wasser: ein Schwarm von Clownfischen links, eine Schildkröte, die an den Korallen knabberte, direkt vor ihm, ein majestätisch Patrouille schwimmender Riffhai unter ihm.
Hatte er wirklich, endlich, nach all diesen Jahren, seine Beichte abgelegt? Ja, das hatte er. Und hatte er tatsächlich, nachdem er seine Augen aufgeschlagen hatte, als Erstes an diesem Morgen Sumaya erblickt, die Majestätische, die Erhabene, auf der Seite liegend und ihm zugewandt, die schönen Hände unter ihrem Kopf gefaltet und von ihren langen Haaren bedeckt wie junge Seesterne hinter wogendem Seegras? Ja, auch das war wahr. Sie musste direkt neben ihm eingeschlafen sein, auf dem blanken Boden, ohne eine Decke. Ihm zugewandt. Ich mag dich. Ich mag dich sehr . Ich dich auch, Sumaya.
»Samuel?«
Samson hatte seine Augen noch immer nicht geöffnet. Umso genauer nahm er nun wahr, wie sich zwei Arme um seinen Bauch schlangen, die dazugehörigen Hände sich in der Mitte trafen und über seinem Bauchnabel verschränkten. Zwischen seinen Schulterblättern spürte er, wie ein Kopf sich anschmiegte. Etwas weiter unten berührten zwei warme Brüste seinen Rücken.
»Guten Morgen, Samuel!«
»Guten Morgen, Sumaya!«
»Ich nenne dich Samuel. Das hast du ja wahrscheinlich schon gemerkt. Ist das in Ordnung?«
»Natürlich.«
»Ist Samuel dein richtiger Name?«
»Ja.«
»Das ist ja schon mal etwas.«
Eine kleine Pause nur. Dann kroch ihre Stimme erneut über seine Schulter. »Samson, wir werden eine Menge Probleme bekommen.«
War das ein Kichern?
»Wie meinst du das?«
»Ich meine, ich hoffe natürlich nicht. Aber ich schätze, Samuel, wir werden sogar einen Riesenhaufen Probleme kriegen.«
»In diesem Moment ist mein größtes Problem, dass ich gerne wüsste, was dein Name bedeutet«, antwortete er langsam, um Zeit zu gewinnen, weil er nicht über Probleme reden wollte.
Sumaya kicherte erneut. »Du bist doch Arabist, krieg’s selber raus.«
»Hab ich schon versucht. Die Wurzel ist klar. Aber wie soll ich esübersetzen? Ist eine seltsame Form. Die Erhabene? Die Majestätische? Die Himmlische? Das klingt so gigantisch.«
»Versuch’s weiter und denk einfach eine Nummer kleiner.«
»Na gut. Und wieso werden wir einen Riesenhaufen Probleme kriegen?«
»Mein lieber Herr Sonntag, oder Samson, auch bekannt als Samuel , Mann mit den vielen Namen, über den ich nichts weiß, außer dass er ständig in der Nähe von Terroristen auftaucht, und das meine ich nicht böse: Ich werde dir jetzt etwas sagen. Bevor ich es mir anders überlege, weil ich gleich bestimmt daran denken muss, was gestern geschehen ist und was heute auf mich zukommt, ja?«
»In Ordnung.«
»Ich hab noch nie einen Freund gehabt. Ich war, glaube ich, auch noch nie verliebt. Ich weiß überhaupt nicht, wie so etwas geht. Ich weiß auch nicht, ob ich jetzt verliebt bin. Und ich stehe hinter deinem Rücken, weil ich es dir nur so ins Gesicht sagen kann. Aber ich find’s schon mal gut, dass du selbst Tee gekocht hast, falls dich das tröstet. Allerdings wäre es mir
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