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Radikal

Radikal

Titel: Radikal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yassin Musharbash
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den anderen geredet. Ich war echt sicher, dass ich auf der richtigen Spur war, diese Reden vom Dschihad, diese harten Predigten und so, und dann sprachen sie am Küchentisch wieder über Autos und Technik und Politik.«
    »Wie hieß deine Arbeit?«
    »Sie hieß: ›Der Kampf im Kopf: Verbal-Dschihadismus als identitätsstiftendes Merkmal junger Muslime in Hamburg‹. Kein guter Titel.«
    »Na ja. Etwas sperrig vielleicht.«
    »Ja, das auch. Aber vor allem, weil einer von ihnen Mohammed Atta war und ein anderer Marwan al-Shehi und noch ein anderer Ziad Jerrah. Irgendwann im Sommer 2000 ging Mohammed in die USA . Erst meldete er sich noch ab und an bei mir, dann gar nicht mehr. Im August 2001 habe ich ihm das letzte Mal gemailt, weil ich angefangen hatte, meine Arbeit zu schreiben, und noch ein paar Fragen hatte. Außerdem hatte ich überlegt, ein paar andere Freunde in den USA zu besuchen und bei der Gelegenheit vielleicht auch ihn zu treffen. Er schrieb mir zurück, er sei jetzt sehr viel unterwegs und habe leider keine Zeit.«
    Samson hatte geweint, als er fertig war. Ganz leise. Nur die hinunterrollenden Tränen verrieten es. Er starrte noch immer in dieKerze. Und noch immer hielt sie seine Hand. Sie hatte nicht vor, sie loszulassen. Sie dachte, er würde weiterreden. Aber dann begriff sie, was er mit »Beichte« gemeint hatte – dass er Absolution erhoffte, jedenfalls ein Urteil erwartete. Von ihr. Warum ich, fragte sie sich. Warum jetzt, heute, an diesem Tag, an dem er und ich einen Anschlag knapp überlebt haben, und an dem Lutfi Latif gestorben ist? Und erst in diesem Moment wurde ihr klar, warum er sie auserwählt hatte, um sich zu offenbaren – und warum heute.
    Seit über zehn Jahren quälte er sich, weil er damals nicht vorhergesehen hatte, was nahezu vor seinen Augen geplant worden war. Alles was er seitdem getan hatte, war dem verzweifelten Wunsch entsprungen, es wiedergutzumachen, indem er Tag und Nacht versuchte, den Terroristen, mit denen er damals am Küchentisch gesessen hatte, noch einmal so nahe zu kommen – und sie dieses Mal zu stoppen. Bis heute. Bis zu diesem Tag, an dem Lutfi Latif sterben musste, der Mann, von dem er zu einem Tagessatz von 350 Euro als Sicherheitsberater engagiert worden war. Sie merkte, wie ihr erneut Tränen in die Augen schossen, dieses Mal um seinetwillen.
    »Samuel«, sagte sie leise.
    »Ja?«
    »Ich mag dich. Ich mag dich sehr. Reicht das für heute?«
    Zum ersten Mal wandte er sich von der Kerze ab und sah sie an, ein scheuer, dankbarer Blick aus rotgeränderten Augen. Ein schüchternes Nicken.
    Und dann hatte sie ihn in den Arm genommen, sie hatte es selbst nicht kommen sehen, aber plötzlich hatte sie es getan, geradezu ungestüm, und Samson ließ sich in ihre Arme sinken wie ein Ertrinkender, und dann waren ihnen beiden die Tränen die Wangen heruntergelaufen. Für eine sehr lange Zeit. Bis Samson sich aufrichtete und seine große, warme Hand auf ihre linke Wange legte und mit dem Daumen über ihre Augenbraue strich, was noch nie jemand getan hatte, jedenfalls nicht seit sie denken konnte. Sie hatte geahnt, dass er versuchen würde, sie zu küssen. Doch das wollte sie nicht, nicht heute. Aber sie wollte auch nicht, dass er ging. Und sie war so müde. War er denn nicht auch müde? Bestimmt war er auch müde. Und deshalb hatte sie, bevor er versuchen konnte, sie zu küssen, schnell gesagt: »Samuel, willst du heute hier schlafen?«
    Und erst an dem überraschten Blick in seinen Augen hatte sie gemerkt, dass er gerade abwog, wie sie das gemeint haben könnte, denn was ihm als Erstes in den Kopf kam, empfand er offenbar als unglaublich, woraufhin sie ihrer eigenen Frage noch einmal nachschmeckte und ihr klar wurde, was sie gesagt hatte, und schnell hinterherschob: »Wir haben ein Schlafsofa.«
    »Sehr gerne. Ich will immer noch nicht alleine sein.«
    Und beide lächelten, aber nur mit den Augen, denn dieser Tag verbot alles andere, und es war das erste Lächeln seit dem Morgen um 8 Uhr 30 gewesen, als er sich, beiläufig wie am Vorabend, einfach neben sie gesetzt hatte, bevor die Hölle losbrach und alles, aber auch wirklich alles anders wurde. Für immer.
    Und jetzt saß sie neben ihm und sah ihm beim Schlafen zu.
    Allah, du bist zu allen Dingen fähig. Und wenn er schlafen kann, kann ich es vielleicht auch. Und alles andere muss bis morgen warten.

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VIII
    Samson stand auf dem Balkon von Sumayas Wohnung und blickte in den charmant verwilderten Innenhof,

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