Radikal
ebenso heftig stieß er sich nach jedem Tritt wieder vom Boden ab. Es war heiß, er hatte Durst, er war jetzt schon weiter gelaufen als sonst und lief einfach immer weiter. Eigentlich dürfte er hier gar nicht sein, sondern müsste zwischen halb fertigen Vermerken an seinem Schreibtisch sitzen, Samstag hin oder her. Es war gestohlene Zeit. Aber er hatte sie nicht für sich gestohlen, sondern für sich und Leo.
Die Nacht hatte er im Büro verbracht, gezwungenermaßen, das ließ sich nicht verhindern. Immerhin merkte er, wie sich sein verspannter Rücken, dem das Bundeswehrklappbett nicht bekommen war, allmählich entspannte. Auch am Morgen hatte er nicht gleich gehen können. Er konnte nicht erwarten, dass alle verfügbaren Beamten ihre Wochenendpläne aufgaben und Urlaubsbuchungen stornierten, während er zu einem Familienfrühstück nach Hause fuhr, sie konnten ja nicht wissen, dass er keine heile Familie mehr hatte, höchstens noch eine Fassade zu retten. Aber um die Mittagszeit herum hatte er sich abgemeldet. Zwei Stunden, mehr nicht. Genug Zeit, um Leo zu sehen, das war sein Plan gewesen. Und hoffentlich zu wenig Zeit, um sich mit Agnes auf einen Streit darüber einzulassen, warum der Therapeut hatte warten müssen und vermutlich noch eine ganze Weile weiterwarten musste.
Aber sein Plan war gescheitert.
Zumindest fürs Erste.
Er hatte Agnes nicht Bescheid gesagt, dass er kommen würde, vielleicht war das ein Fehler gewesen, jedenfalls fand er sie leiseweinend am Küchentisch sitzend vor, nachdem er ins Haus eingetreten war. Sie registrierte ihn mit glasigen Augen.
»Ansgar, du hast mich sehr verletzt.«
»Agnes, bitte , nicht jetzt.«
»Ja, ich will jetzt auch nicht reden. Ich kann nicht. Verstehst du? Gestern, ja, da hätte ich vielleicht gekonnt. Jetzt nicht.«
»Agnes …«
»Lass es, Ansgar. Tu, was du tun musst. Du wirst schon wissen, was richtig ist.«
»Agnes … Wo ist Leo?«
»Oben.«
Also war er nach oben gegangen und hatte seine Sportsachen angezogen. Hatte dabei versucht, Agnes’ Vorstellung nicht als solche zu werten, sondern ihr zuzugestehen, dass sie ja vielleicht wirklich so empfand, es würde sich schon wieder einrenken, irgendwie. Dann hatte er an Leos Tür geklopft
»Kumpel, lass uns laufen gehen, was hältst du davon?«
Aber Leo wollte nicht. Stattdessen sah sein Sohn ihn mit einem Blick an, den er nicht deuten konnte. War es Wut? Spott? Trauer? Eine Mischung aus alldem? Aber in welchem Verhältnis?
Leo war ein begeisterter Sportler, Fußball, Surfen, Basketball, auch wenn ihm dazu eigentlich die entscheidenden Zentimeter fehlten, Judo, zuletzt hatte er, angestachelt durch einen seiner Lehrer, der aus den USA stammte, sogar mit Baseball geflirtet. Samstags mit seinem Vater zu laufen, hatte Tradition. Eine schlechte Note, Ärger wegen eines völlig verdreckten Partykellers, ein kleiner Ladendiebstahl, der am Tag zuvor bekannt geworden war: All das hatte sie bisher nicht davon abhalten können, eine Stunde nebeneinander am Wasser entlangzujoggen.
Ansgar Dengelow hätte nicht einmal sagen können, wer von ihnen das mehr genoss. Er, weil er seinen Sohn Jahr um Jahr, Monat um Monat, wachsen und stärker werden sehen konnte? Oder Leo, der die Gelegenheit jedes Mal vollständig auskostete, sich mit seinem Vater zu messen, indem er Sprints und Wettbewerbe in ihren Lauf einflocht, sich still freute, wenn er ihn abhängen konnte, und ihn spielerisch schalt, wenn er das Gefühl hatte, sein Vater strenge sich nicht genug an?
» Kumpel , was ist los?«
»Nichts. Lass mich.«
»Leo, ist es wegen Mama?«
»Lass mich, o. k.?«
Natürlich war es wegen Agnes. Er musste sie weinen gesehen haben. Ansgar Dengelow merkte, wie sich seine Schrittfrequenz erneut erhöhte. Ruhiger, Ansgar! Du machst genau das Richtige. Du bleibst du selbst. Das bietet ihm Stabilität, das ist auf lange Sicht das Wichtigste. Ruhig, Ansgar. Auch das renkt sich wieder ein! Die Selbstbeschwörung tat ihren Dienst. Er würde einfach morgen noch einmal dasselbe Angebot machen. Und falls Leo dann immer noch nicht wollte, würde er einfach mit ihm reden. Natürlich würde er ihm nicht die Wahrheit sagen, jedenfalls nicht die ganze, dafür war er zu jung. Aber er war zuversichtlich, dass er einen Teil der Verunsicherung seines Sohnes durch ein paar wohlüberlegte Sätze reduzieren könnte.
Und bis dahin … Bis dahin würde er die Zeit nutzen, seinen Kopf zu sortieren. Denn je schneller er vorankam, desto mehr Zeit
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