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Radikal

Radikal

Titel: Radikal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yassin Musharbash
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dass siegeschlossen war. Er flüsterte fast, als er sich Merle wieder zuwandte. »Merle, wenn am Ende alles ganz anders gewesen sein sollte – wenn!  –, dann ist der richtige Zeitpunkt, etwas zu unternehmen, nicht jetzt .«
    Also hatte sie es reingeschrieben. Zwei Absätze, 25 Zeilen, ihr Kuckuckskind. Und jetzt – sie hatte die Drei Fragezeichen noch ein paar Minuten warten lassen – würde sie gehen und sehen, wie die Titelgeschichte aussah, deren Manuskript mittlerweile zweifellos bereits vorlag und die in weniger als drei Stunden fertig abgeliefert werden musste, damit die Druckerpressen loslegen konnten, um die Wahrheit für diese Woche herauszuwalzen.
    Die Wahrheit.
    Die Wahrheit war, dass sie die Drei Fragezeichen zugleich unterschätzt und überschätzt hatte, wie sie feststellte, als sie die Manuskriptbögen las, die Rieffen in affenartiger Geschwindigkeit aus einem Dutzend Zulieferungen zusammengeschrieben hatte. Die Drei Fragezeichen lagen wie schon beim letzten Mal auf ihren Flugzeugsesseln, aber diesmal hatten sie Vorsorge getroffen und einen kleinen weißen Resopalbeistelltisch requiriert sowie einen Sessel für sie, eine nette Geste, zumal die beiden Möbel zwischen die Erste-Klasse-Sessel von Rieffen und Kampen gerückt worden waren.
    Wie müde sie war! Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen, während sie las. Sie merkte, dass sie kurz davor war, einzunicken. Die Blätter auf den Boden fallen zu lassen und für unwichtig zu erklären, unwichtiger jedenfalls als ein Bett. Zu unwichtig, um sich jetzt noch damit zu beschäftigen. Zu irreal. Zu nah, zu weit weg. Zu abstrakt. Buchstaben auf Papier, nichts weiter. Tanzende schwarze Punkte .
    Aber sie zwang sich zur Aufmerksamkeit. Dazu, die Absätze noch einmal und noch einmal zu lesen. Genau darauf zu achten, wo die »Leitplanken« der Geschichte versteckt waren – die unschuldig eingeflochtenen Sätze, die den Leser an die Hand nahmen und ihm vorinterpretierten, wie das Geschilderte zu deuten war. Und jene Stellen genau zu lesen, die auf ihren Zulieferungen basierten. Hier zum Beispiel: Ihre Worte, in Rieffens Worten. Hatte er ihr Gewalt angetan? Nein, die Stelle war in Ordnung. Und dort: Ihr Versuch eines Lutfi-Psychogramms. Was hatten die Kollegen daraus gemacht? Es war sogar besser als ihre Zulieferung, wenn sie ehrlich war. Und hier: Die Schilderung des Anschlags. Aber auch an dieser Stelle hatte sie keine Einwände. Dass höchstens ein Drittel ihres Textes überleben würde, schon aus Platzgründen, war ihr vorher klar gewesen.
    Sie war jetzt halb durch. Bisher hatte Rieffen sauber gearbeitet. Aber die wichtigste Stelle kam noch.
    »Trinkt ihr da eigentlich Apfelschorle oder Whiskey?«, hörte sie sich plötzlich fragen.
    »Bourbon, Schwälbchen«, antwortete Erlinger freundlich. »Ist zwar etwas früh, aber die Tageszeiten gehen ja gerade auch etwas durcheinander. Auch einen?«
    »It’s always six o’clock somewhere«, warf Rieffen gut gelaunt ein.
    »Ja, bitte«, sagte Merle.
    Kampen erhob sich und ging hinüber in das Vorzimmer, wo er der Sekretärin Merles Wunsch unterbreitete. Er kam mit einem Glas zurück und drückte es ihr in die Hand.
    Feuer auf Feuer, dachte Merle, als sie den ersten Schluck genommen hatte, was für eine bescheuerte Idee. Aber dann las sie weiter. Schließlich ließ sie die Blätter sinken, als Signal an die anderen, dass sie durch war.
    »Und«, fragte Erlinger sofort, »wie finden Sie’s?«
    »Wo ist die Passage mit den Islamhasser-Drohungen an Latifs Adresse?«, fragte Merle.
    »Wir haben lange drüber diskutiert«, antwortete Erlinger ohne jeden Zynismus. Oder war sie nur zu müde, ihn zu erkennen?
    »Diskutiert? Verarschen Sie mich nicht, Erlinger. Ihr diskutiert hier doch gar nicht.«
    »Doch«, erwiderte Kampen. »In diesem Fall ja, Frau Schwalb. Wir haben’s rausgenommen, weil wir zwar finden, dass das bei Gelegenheit nachgetragen werden muss, aber nicht in dieser Geschichte.«
    »Wieso nicht?«
    »Weil es verwirrt. Es würde Sinn ergeben, wenn wir einen Verdacht daraus machen würden. Aber das können wir nicht. Ich meine,es ist glasklar , dass es al-Qaida war. Wir haben überhaupt nur Ihretwegen die Möglichkeit offengelassen, dass irgendjemand anderes als die Dschihad-Boys damit zu tun haben könnte.«
    »Was«, wie Erlinger einfiel, und nun doch deutlich gereizt, »ziemlich bescheuert ist, wenn man eine Titelgeschichte über al-Qaidas Todesschwadronen macht.«
    Merle nahm einen Schluck von

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