Radikal
dem eisigen Bourbon. Sollte sie in den Krieg ziehen? Ihre Rüstung anziehen? Sich weigern, den Text freizugeben? Damit drohen, ihren Namen zurückzuziehen? Das dritte Geschlecht einschalten? Sie war hin- und hergerissen. Scheiße , die lullen mich ein. Scheiße , es ist viel besser , als ich gedacht habe.
Sie las die entscheidende Passage noch einmal. Ein paar Sätze unter Hunderten Sätzen, im letzten Drittel, zu Beginn des Resümees, mit dem der Leser aus der Geschichte entlassen werden würde. 33 Zeilen von 705 Zeilen.
Es war der erste erfolgreiche al-Qaida-Anschlag in der Bundesrepublik überhaupt. Praktisch niemand zweifelt daran. Keine der Sicherheitsbehörden, kein Terrorexperte, nicht einmal die Cyber-Dschihadisten im Internet: Zum ersten Mal hat die al-Qaida-Zentrale es geschafft, ein gezieltes Attentat anzuzetteln, mitten in Europa, mitten in Deutschland, mitten in der Hauptstadt, nur Schritte entfernt von der deutschen Regierungszentrale und dem Deutschen Bundestag. Die Täter feierten sich selbst, nur Stunden später, in einem Bekennervideo. Das Bundeskriminalamt hält das Video für authentisch. Noch sind die Täter nicht gefasst. Es gibt keine Namen, keine Fahndungsplakate. Theoretisch könnte es auch ein Trittbrettfahrer des Terrorismus gewesen sein. Oder ein sogenannter Lone Wulf , ein Attentäter, der sich selbst rekrutierte, ohne auf Anweisungen und Geld aus Waziristan zu warten. Oder ein Verrückter mit Bombenbaukenntnissen. Oder jemand, der einfach nur Chaos schüren wollte, Angst und Verunsicherung. Aber alles spricht dagegen, dass irgendjemand anderes als al-Qaidas Todesschwadron verantwortlich war: »Was im 2 TV – Studio geschah«, sagt der Bundesinnenminister, »ist genau das, wovor wir gewarnt und worauf wir gewartet haben.« Und der Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Guido Tönniges, sekundiert: »Wir habenjahrelang gewusst, dass al-Qaida hier zuschlagen will, jetzt ist es den Terroristen gelungen.«
Journalismus ist Geschichtsschreibung, die es eilig hat: Merle konnte sich nicht erinnern, wo sie das mal gelesen hatte. Aber sie wusste, mehr als diese Zeilen würde sie nicht bekommen. Die Einschränkung, auf die es ihr ankam, war drin, wenn auch nur zu dem Zweck, anschließend von denkbar gewichtigen Gegenspielern zunichtegemacht zu werden. Aber sie war drin.
Merle Schwalb leerte ihren Drink. Die Drei Fragezeichen, die überall ihre Spione zu haben schienen, hatten ihr gleich zu Beginn mitgeteilt, an welchen Titelgeschichten die Konkurrenz arbeitete, die ja erst nach dem Globus an die Kioske kommen würde. Fast könnte man meinen, die Chefredakteure hätten sich abgesprochen. Vielleicht kannte man sich aber auch einfach zu gut und sortierte sich von selbst wie Lastwagen im Reißverschlussverfahren, um sich nicht allzu sehr in die Quere zu kommen. Der Argus würde am Montag fragen: »Wie radikal sind Deutschlands Muslime?« Der stern wollte nicht selbst ermitteln, sondern plante stattdessen, ebenfalls vorgezogen, für den Dienstag einen Monster-Nachruf mit der Arbeitszeile »Der deutsche Obama: Wer war Lutfi Latif?«. Der Spiegel wiederum blieb bei dem traditionellen Montagstermin und verlegte sich nach gegenwärtiger Planung in Hamburg auf die Polit-Reaktionen. Die Redakteure dort strickten an einer Titelgeschichte, die »Republik unter Schock« heißen sollte. Dazu kamen aber natürlich die Tageszeitungen, die Sonntagszeitungen, die internationale Presse, außerdem Hunderte Radiosender und Tausende TV – Minuten, zudem stündlich wechselnde Aufmacher auf den Online-Nachrichtenseiten. Wie wichtig würde es in diesem Chor noch sein, fragte sich Merle Schwalb, ob die 33 Zeilen so oder eine Nuance anders ausfielen?
Wie hatte Henk gesagt? Es ist vertretbar.
Feuer auf Feuer, der Bourbon tat seine Wirkung. What the fuck!
»Kann meinetwegen raus«, sagte sie müde.
»Ist schon raus«, antwortete Erlinger grinsend.
»Arschloch.«
»Ich weiß.«
Erlinger grinste immer noch, als Merle die Tür hinter sich zuschlug.
***
Ansgar Dengelow rannte schneller als sonst, und er wusste, dass es die Wut war, die ihn auf dem Uferweg der Rummelsburger Bucht vorantrieb; die Wut und – zum ersten Mal – die schreckliche Ahnung, dass die Affäre um Agnes’ Affäre tiefere Spuren in seinem Leben hinterlassen könnte, als er befürchtet hatte. Agnes’ Liebesleben war ihm immer noch leidlich egal. Nicht aber seine Beziehung zu Leo.
Hart gruben sich seine Laufschuhe in den Splitt, und
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