Radikal
auch die Lippen piercen, jetzt, hier, gleich um die Ecke, für fünfzehn Euro. Oder mir im Laden gleich nebenan einen Burkini kaufen. Ich müsste es nur wollen. Mich dafür entscheiden. Aber mit einer gepiercten Lippe bräuchte ich in Ramallah nicht aufzutauchen. Und mit einem Kopftuch hätte Samuel sich bestimmt nicht in mich verliebt. Also tue ich beides nicht. Und ich will ja auch gar kein Punk sein, und auch keine Schlampe. Und auch keine Schleiereule. Aber was ich sein will, weiß ich auch nicht. Ich will alles sein. Und das Gegenteil. Es zerreißt mich. Ich bin noch Jungfrau. Aber doch nicht, weil ich wirklich glaube, dass ich sonst eine Schlampe wäre. Sondern? Ich weiß es nicht. Vielleicht will ich mir ja auch nur keine Option verbauen und verpasse dabei mein eigenes Leben. Vielleicht warte ich ja darauf, dass die Entscheidung von alleine fällt, einfach so, aber dafür unumkehrbar. Aber eins weiß ich: Ich will mich nicht zweiteilen wie Mina, die ihren Eltern bei jedem Besuch schwört, dass sie sich niemals mit »Jungs« einlässt und gleichzeitig Ulf gegenüber darauf pocht, dass sie sich von niemandem irgendetwas sagen lässt, und die dann abends, wenn wir beiden alleine auf dem Balkon sitzen, ihre beiden Teile mühsam wieder zusammenfügen muss, bevor sie einschlafen kann.
Kann Samuel das je verstehen? Kann das überhaupt jemand verstehen, der es nicht selbst jeden Tag erlebt? Dieser ewige Kampf, zu bewahren, was einem die Eltern anvertraut haben wie ein wertvolles Geschenk, wie ein Familienerbstück – nur dass man dieses Geschenk leider nicht in Ehren halten kann, indem man es in den Schrank stellt und ab und zu abstaubt. O nein , man muss es immer mit sich tragen, damit es nicht schrumpft; muss es ständig vorzeigen, damit es sich nicht verflüchtigt; es allen präsentieren, damit es seinen Glanz behält. Anstrengend, so anstrengend. Und zugleich das Wertvollste, das ich besitze.
Aber darf ich deswegen kein sehnsuchtsvolles Ziehen in meinem Bauch spüren, wenn ich Samuel umarme? Ihm nicht durch die Haare fahren wollen und – Gib es zu, Susu! – mir vorstellen, wie es wäre, ihn ohne sein verwaschenes blaues T-Shirt zu umarmen und vielleicht auch nicht auf dem Balkon, sondern eher in meinem Bett?
Und was, wenn ich es einfach ausprobiere? Schieb alles zur Seite, Susu : Schieb es weg! Plötzlich musste Sumaya lächeln. Entweder es funktioniert, oder es funktioniert nicht: Wenigstens eine Sache, die sie Samuel in ihrem morgendlichen Durcheinander gesagt hatte, ergab Sinn. Sie hatte ihn zu gern, um ihm und ihr keine Chance zu geben.
Das waren Sumayas Gedanken gewesen, als sie in Fadis Internetcafé eingetreten war, wie immer einen Hauch genervt von der per Lichtschranke ausgelösten digitalen Version eines Tante-Emma-Türbimmelns, den Blick aber schon auf ihren Cousin Fadi gerichtet, dem sie, wie zur Begrüßung, das Falafel-Sandwich hinhielt, das sie ihm – schließlich hatte Fadi immer Hunger, immer – gerade noch bei »Uncle Mo« in der Graefestraße gekauft hatte, guter Dinge also, gelöst und aufgekratzt, weil sie sich entschlossen hatte, der Liebe den Status eines zunächst nicht-ständigen Mitglieds in ihrem privaten Sicherheitsrat einzuräumen.
Aber die mühsam hergestellte gelöste Stimmung hielt nicht lange vor. Erst zerstörte Fadi sie, dann Samuel. Zuletzt beide gemeinsam.
Erst Fadi: Natürlich hatte er sie mit seinen Bärenarmen umfangen, sobald sie greifbar gewesen war. Als er sie endlich freigab und mit großen Augen ansah, spürte sie, dass er mit den Wortenrang. Er wusste nicht, wie er beginnen sollte. Also nahm sie es ihm ab und berichtete von sich aus, wie sie den Anschlag erlebt hatte. Die Explosion. Das Chaos. Die Toten. Die wimmernden Verletzten. Wie sie die beiden Kinder herausgebracht hatte. Wie sie schließlich bei Fadia von Lutfis Tod erfahren hatte. Zwischendurch stockte ihre Stimme, und Fadi drückte sie erneut und zog mit seinen Pranken ihren Kopf an seine Brust. Doch der Anschlag und dass Sumaya ihn knapp überlebt hatte, waren nicht das Einzige, das ihren Cousin umtrieb. Sie spürte es. Er war nervös. Wie er die Computermaus sinnlos hin- und herbewegte. Dass er sein Sandwich nicht auspackte. Die Art und Weise, wie er die eintretenden Kunden behandelte – abweisend und schroff.
»Was ist los, Fadi?«, fragte sie schließlich.
»Susu, ich bin doch nur froh, dass du lebst, du könntest tot sein, A’udhu billah .«
»Fadi, was ist los?«
»Susu, du
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