Radikal
von Islamophoben, wie man es bis heute nirgendwo nachlesen konnte?
Sie hatte sich diesen Teil ihrer Zulieferung bis zuletzt aufgehoben, und sie wusste genau, warum: Weil sie gehofft hatte, dass Samson endgültige Ergebnisse präsentieren würde. Und weil sie geahnt und befürchtet hatte, dass das nicht passieren würde – und sie in diesem Fall auch noch mit Henk Lauter würde reden müssen. Weil sie sich selbst nicht mehr traute. Und weil sie spätestens dann jemanden brauchen würde, der einen unbestechlichen Blick hatte. Nachdem sie Samsons E-Mail, die alles und nichts zugleich sagte, gelesen hatte, war dieser Moment gekommen.
»Henk, ich brauche deinen Rat.«
»O. k., lass hören!«, antwortete Henk und legte die Banane, die offenbar in seinem Frühstückskarton gewesen war, wieder zurück auf den Schreibtisch.
Wie gut schon das tat, dieser Akt der Normalität inmitten dieser Anspannung, die sie allmählich zu überfordern drohte. Henk, ihr Beichtvater und Mentor. Henk, der Besonnene. Henk mit dem aufgeräumten Büro und den liebevoll ausgewählten Mitbringseln von seinen Stationen in Bangkok, in Nairobi, in Washington. Henk, der Freundliche, der immer eine Tasse Earl Grey auf dem Schreibtisch stehen hatte. Henk mit der glücklichen Familie, der bei keinem Sommerfest zu viel trank, niemals Geheimnisse verriet und den noch niemand beim Beugen der Regeln erwischt hatte.
»Henk, ich hänge da an einer Stelle fest.«
»Erzähl!«
Sie beschrieb ihm ihr Dilemma, so wie er es ihr beigebracht hatte – in kurzen, klaren Sätzen, ohne Schnörkel und »ohne Handgepäck«, also ohne etwas zurückzuhalten. Sie blickte dabei auf den langen, schmalen Teppich, den Henk aus Marrakesch mitgebracht hatte und der in Augenhöhe über drei der vier Wände seines Büros lief. Er war wunderschön, stilisierte Kamele in wechselnder Formation, der Untergrund aus Streifen in Weiß, Blau und Blassrot. Sie erzählte Henk, dass die Mehrzahl der Drohbotschaften, über die sie berichtet hatte, offenbar von nur einem einzigen Absender stammte. Und sie berichtete ihm auch von den Drohbotschaften, die nicht einmal von Islamisten stammten und von denen sie erst durch Samson erfahren hatte.
»Was ist deine größte Sorge bei dieser Titelgeschichte heute , Merle?«
»Dass wir uns zu eindeutig auf al-Qaida als Täter festlegen.«
»Aber es gibt dieses Video, das hast du selbst gesagt.«
»Ja. Das gibt es. Und vielleicht ist es echt. Vielleicht aber auch nicht.«
»Wieso sollte es nicht echt sein?«
»Weil Samson Zweifel hat.«
»Wie schwer wiegen denn Samsons Zweifel?«
»Es ist ein Gefühl.«
»Hmm. Und jetzt weiß du nicht, ob und wie du das in deine Zulieferung schreiben sollst?«
»Ja.«
»Weil du bei deiner ersten Bewährungsprobe nicht die Bedenkenträgerin sein willst?«
»Ja.«
Henk schenkte sich Tee aus einer gläsernen Kanne nach und rührte bedächtig, bis der Zucker sich aufgelöst hatte. »Merle, sieh es mal so: Dieser Titel wird auf jeden Fall kommen, egal was du jetzt sagen würdest. Selbst das dritte Geschlecht wird das jetzt nicht hören wollen. Gegen diesen Sog kommt keiner an. Wir sind nicht der Spiegel , wir sind nicht die Zeit . Wir machen nicht Sowohl-als-auch oder Einerseits-andererseits, auch wenn ich es mir manchmal wünschen würde. Aber beim Globus gibt es immer nur Entweder-oder. Das Beste, was du machen kannst, ist darauf zu achten, dass Erlinger ein Zitat reinschraubt, demzufolge die Behörden das Video für echt halten. Wenn sie es nicht für echt halten, müsst ihr die Geschichte sowieso ändern.«
»Aber die können sich doch auch irren.«
»Und das ist dann der Titel in der nächsten Woche, wenn es so ist – und wenn wir es dann belegen können, was wir jetzt nicht können.«
»Aber ist das nicht wie … wie eine Umkehrung der Beweislast? Al-Qaida ist schuldig bis zum Beweis des Gegenteils?«
»Ja.«
»Ist es denn in Ordnung, so zu arbeiten?«
»Nein. In einer idealen Welt nicht. Aber es ist vertretbar. Solange du den Zweifeln nachgehst. Noch hast du nicht genug. Nicht für mehr als eine Passage, die es theoretisch offenhält.«
»Ich habe das Gefühl, dass die Drei Fragezeichen diesen Zweifeln nicht nachgehen werden.«
»Dann musst du es eben alleine machen.«
»Henk, weißt du, was die über dich sagen?«
»Kann’s mir denken. Erlinger versucht mich rauszuekeln, schon eine ganze Weile.«
»Und was tust du dagegen?«
Henk Lauter stand auf, ging zur Tür und stellte sicher,
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