Radio Miracoli und andere italienische Wunder
vier Jahren ausgestrahlt wurde. Dann die übliche Reportage, die an niedere Instinkte appelliert und in der zugedröhnte Kids vor einer Diskothek interviewt werden. Außerdem eine ernst gemeinte Dokumentation über den nicht existierenden Mr Bigfoot aus Amerika. Ich zappe mich durch alle Programme, bis ich bei Kanal 61 lande. Das ist der Sender, den mir mein Vater wärmstens empfohlen hat, aber der Bildschirm ist schwarz. Entweder gibt es den Sender nicht, oder die Übertragung ist gestört. Der leere Bildschirm bringt mir die Stille im Haus zu Bewusstsein. Jetzt hätte ich gerne ein wenig Gesellschaft, einen Menschen, zu dem ich sagen könnte: »Im Moment geht es mir nicht so gut.«
In den letzten Tagen hat mich nicht einmal mehr jemand angerufen. Ich habe keine Freunde, nur Kumpels, die mit mir auf eine Pizza gehen oder eine Runde auf der PlayStation spielen wollen. Auch die fleißigen Helfer sind verschwunden. Sobald sie begriffen haben, dass mein Vater zur Miete wohnt und dass das Geld auf seinem Konto schwindet, um die Krankenschwestern zu bezahlen, sind ihnen plötzlich alle möglichen Ausreden eingefallen. Aber mein Vater und ich, wir brauchen niemanden. Wir sind ein eingespieltes Team. Ich wechsle die Infusionsnadel wie eine professionelle Krankenschwester und spritze das Morphium mit leichter Hand. Auch mein Vater spielt brav mit und versäumt es nie, mir ein Lächeln zu schenken, wenn er für wenige Sekunden bei Sinnen ist.
Ich schalte den Fernsehapparat aus, schlüpfe in einen Küchenhandschuh, fülle eine kleine Wanne mit warmem Wasser, verteile darin eine desinfizierende Lösung und gehe ins Schlafzimmer. Ich spüre, dass ich etwas zurückgebe. Man kann ein ganzes Leben lang darüber nachdenken, aber es wird einem nie gelingen, zu begreifen, was man empfindet, wenn man dem eigenen Vater den Hintern abwischt. Man empfindet weder Ekel noch Abscheu, noch zaudert man. Man schließt einen Kreis, indem man sich zu einer unvermeidbaren Geste verpflichtet, die in sich perfekt ist.
Am nächsten Morgen reiße ich die Augen auf, kurz bevor der Wecker loslegt, und komme mit einer raschen Handbewegung dem Klingeln zuvor. Ich mache mich fertig für die Arbeit, und als ich das Schlafzimmer meines Vaters betrete, um mich zu verabschieden und mich mit der Krankenschwester abzusprechen, bemerke ich, dass der Alte nur schwer Luft bekommt. Der Atem setzt oft lange aus. Ich ahne, dass wir uns dem Ende nähern, aber in bestimmten Situationen weigert sich der Verstand, dies zu begreifen.
An meiner Arbeitsstelle verrichte ich Tätigkeiten, die von fundamentaler Bedeutung für die Menschheit sind. Unter anderem packe ich die neuen Hochglanzprospekte aus. Ich verteile die Broschüren aus erlesenstem Papier und mit edlem Reliefdruck auf der Vorderseite mit konzentrierter Andacht in den Ständern neben den teuren Karossen und staple sie in Blöcken zu zwanzig Stück unter jedem Schreibtisch. Anschließend leiste ich meinen Beitrag, diese Welt in einen besseren Ort zu verwandeln, indem ich nachforsche, welche Fortschritte die diversen Bestellungen machen. Zufrieden nehme ich zur Kenntnis, dass aus Deutschland in Kürze eine Lieferung schwarzer Türgriffe eintreffen wird. Als das Telefon klingelt, melde ich mich mit einem Lächeln der Genugtuung in der Annahme, es handle sich um den wutschnaubenden Fünfzigjährigen. Stattdessen ist es die Krankenschwester. Ich lege auf, schlüpfe in meine Jacke, teile Oscar mit, dass mein Vater gestorben ist, und gehe, ohne nennenswerte Reaktionen von seiner Seite feststellen zu können. Soweit ich mich erinnern kann, befinde ich mich eine Sekunde später bereits zu Hause und stehe am Bett meines Vaters.
Vor mir liegt ein schöner alter Mann. Von wegen, dass ich ihm ähnle. Er sieht nicht aus wie ein Achtzigjähriger, der an Krebs gestorben ist. Das Gesicht ist ein wenig eingefallen, aber seine Haut ist wundersamerweise vollkommen faltenlos. An seinen Beinen fällt die Auszehrung deutlicher auf. Die Knie sind dicker als die Oberschenkel, aber der übrige Körper ist zu meiner Erleichterung gut anzusehen. Ich entkleide meinen Vater, und während ich ihn gründlich wasche, sage ich ihm die drei oder vier Dinge, die ich nicht für den Rest meines Lebens für mich behalten will. Ich ziehe ihm dunkle Hosen an, ein weißes Hemd und seine guten Schuhe. Ich kämme seine spärlichen Haare, entferne die Heftpflaster an seinen Armen und schließe ihm den Mund. Dann gibt es nichts weiter zu tun, als ihn
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