Radio Miracoli und andere italienische Wunder
schließlich zum ersten Mal mit einer Erwiderung zu Wort zu melden, die in meinem Fall stets lautet: »Sie haben vollkommen recht, sich so aufzuregen! Und ob! Im Gegenteil, ich muss Ihnen sogar noch danken, dass Sie dabei so höflich geblieben sind!« Und das alles sollte man mit der entsprechenden Überzeugung und Emphase vortragen, was stets aufs Neue Verblüffung hervorruft. Garantiert. Leider sind wir in diesem Fall noch weit entfernt von einem Ende der geistigen Diarrhö dieses erbosten Kunden, der mich zwingt, erneut jede Etappe seines dramatischen Ungemachs mit den Türgriffen zu durchleben. Das gibt mir Zeit, ernsthafte Betrachtungen über die Überlegenheit unserer westlichen Kultur anzustellen, die auf so wesentlichen Dingen wie Freiheit, Gleichheit und Türgriffen in Farbe der Karosserie basiert. Ein Bollwerk aus Oberflächlichkeiten, hypnotisch wie eine Seifenblase und ebenso dauerhaft.
Ich folge den herzzerreißenden Bekenntnissen und nicke an den entsprechenden Stellen. Typen wie er denken alle, dass ihnen nichts passieren kann, obwohl sie ganz genau wissen, dass im Sommer die Tötungsdelikte als Folge temporärer geistiger Umnachtung gewaltig in die Höhe schnellen. Die während des gesamten Jahres angestaute Frustration und die drückende Hitze verwandeln ruhige Ruheständler, unverdächtige Nachbarn und ehrbare Bürger in wütende Bestien. Auch über mich wird man eines Tages sagen: »Er war ein anständiger Mensch, immer höflich, immer freundlich … eher zurückhaltend …« Ich bin zweifelsohne das ideale Objekt für eine sommerliche Sondersendung. Ich bin der nette Kerl von nebenan, der eines Tages ein Beil genommen und einen nervtötenden Kunden in zwei Teile zerhackt hat.
»Ihr seid doch alle unfähig!«, brüllt der Typ endlich los.
Ich warte.
»Jawohl, unfähige Idioten seid ihr!«
Okay, jetzt bin ich an der Reihe.
»Sie haben vollkommen recht, sich so aufzuregen …«
5
Mein Vater ist ein netter Mensch, das habe ich immer gewusst, aber dass diese Seite an ihm sogar in den kurzen Momenten geistiger Klarheit während seines Todeskampfes zum Vorschein kommt, hat mich doch überrascht. Gestern schien es ihm ein wenig besser zu gehen, und deshalb habe ich ihn in den Rollstuhl gesetzt und an den Tisch gefahren. Irgendwann hat er nämlich zu mir gesagt, dass es für ihn nichts Schöneres auf der Welt gibt, als mit seiner Familie gemeinsam am Tisch zu sitzen. Seitdem tue ich alles, um meinen Vater zufriedenzustellen. Ich habe mich abgehetzt und schnell die Tischdecke ausgebreitet, da ich weiß, dass er nicht lange sitzen kann. Dann bin ich in die Küche gestürzt, um die Teller zu holen, und habe nebenbei rasch die Gasflamme unter der Suppe angezündet. Als ich ins Zimmer zurückkam, sah ich, wie mein Vater mit geschlossenen Augen einen imaginären Löffel an den Mund führte und die Suppe aß, die ich noch gar nicht serviert hatte. Wie versteinert blieb ich stehen und beobachtete ihn, bis es mir kalt über den Rücken lief und die Teller, das Besteck und die Gläser, die ich in der Hand hielt, klirrend aneinanderstießen. Mein Vater hat die Augen geöffnet, seine Hand betrachtet, sich zu mir umgedreht und mit einem Schmunzeln zu mir gesagt: »Wer bin ich? Was mache ich hier?«
Wie gern würde ich ihm sagen, dass alles vergeben und vergessen ist. Die unangebrachten Bemerkungen, seine Abwesenheit, die ausgebliebenen Anrufe, die fehlenden Glückwünsche, all der Groll, der sich in den vielen Jahren angesammelt hat – hinweggefegt von dieser einen Bemerkung, unsinnig und dennoch klug.
Heute hat er sein Essen nicht angerührt. Seit Stunden bewache ich seinen Atem; irgendwann beschließe ich, mir eine Auszeit vor dem Fernseher zu gönnen. Nach nicht einmal einer halben Stunde fühle ich mich leer und einsam. Bei mir verfehlen diese Sendungen völlig ihren Zweck, menschliche Gesellschaft zu ersetzen. Zwei Politiker rechnen miteinander ab und ignorieren selbstgefällig die Chance, sich mir verständlich zu machen. Einer der beiden wiederholt ohne Unterlass: »Was erlauben Sie sich! Was erlauben Sie sich! Was erlauben Sie sich!«, während der andere fast vom Sessel rutscht – so weit ist er an die Kante vorgerückt – und Beschuldigungen ausstößt gegen ein schwachsinniges Haushaltsgesetz oder vielleicht auch gegen eine wahnsinnige Hausfrau. Auf jeden Fall verstehe ich kein Wort. Die Alternative wäre ein Fernsehfilm, dem man nur folgen kann, wenn man die erste Staffel gesehen hat, die vor
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