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Radio Miracoli und andere italienische Wunder

Radio Miracoli und andere italienische Wunder

Titel: Radio Miracoli und andere italienische Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Bartolomei
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eigenen Prioritäten ins Wanken und untergräbt die Stellung, die man seiner Arbeit im Leben einräumt. Ich lege die alte Platte auf und erwidere zum x-ten Mal, dass es meinem alten Herrn schlecht geht, dass es nur noch eine Frage von Tagen ist, der Gedanke mich jedoch tröstet, dass er nicht so viel leiden muss. Man wird mir noch einen, vielleicht zwei Tage Schonfrist gewähren, doch dann wird die Geschichte vom kranken Vater allen allmählich auf die Nerven gehen.
    Mein Kollege Oscar gehört zu den Menschen, die einem den Eindruck vermitteln, dass selbst der Einschlag eines gigantischen Meteoriten auf der Erde samt nachfolgender Auslöschung der menschlichen Rasse nicht unbedingt als Unglück anzusehen ist. Oscar hat sich nach meinem Vater erkundigt, sich kurz meine Antwort angehört und daraufhin angefangen, über sich selbst zu reden. Was hat der Mann nicht alles durchgemacht – offenbar noch viel Schlimmeres als ich. Wie hart es für ihn gewesen war – offenbar noch viel härter als für mich. Und wie sehr er sich bemüht hat, die Kollegen nicht damit zu belästigen – und offenbar ist ihm dies auch viel besser gelungen als mir. Dieser Mann hat ein enormes Mitteilungsbedürfnis, aber nicht einen Funken Anstand im Leib. Mag sein, dass Typen wie er tatsächlich der Ansicht sind, es dank ihrer vermeintlichen Subtilität die Leute nicht merken zu lassen, was sie ihnen alles unterjubeln. Oder sie scheren sich einen Dreck darum, auch wenn sie wissen, dass sie aalglatte Schleimer sind.
    Solche Auftritte können einem den ganzen Tag versauen. Möglich ist aber auch, dass sich gerade in dramatischen Lebenssituationen der Radius der eigenen Wahrnehmung vergrößert und einem vor Augen führt, wie unwichtig solche Episoden sind. In unmittelbarer Nähe des Todes gewinnen andere Aspekte des Lebens an Klarheit. Die Arbeit, zum Beispiel, samt der uritalienischen Einstellung, dass man von Glück reden kann, wenn man eine hat, und folglich alle von einem erwarten, dass man bereit ist, alles zu tun, um sie auch zu behalten, sogar mehr zu leisten, ohne dafür mehr Geld zu bekommen. Ein Mensch mit Arbeit ist privilegiert, und Privilegien fordern ihren Preis.
    Draußen vor den Schaufenstern muss es unerträglich heiß sein. Ein Blick hinaus auf das Trottoir genügt. Die Wanderungsbewegung ans Meer wird bald ihren Höhepunkt erreicht haben. Dort, wo sich noch vor einer Woche die Autos Stoßstange an Stoßstange aneinanderreihten oder noch die kleinsten Lücken sofort von einem Motorroller besetzt wurden, gibt es jetzt mindestens drei freie Parkplätze. Ob die Krankenschwester daran gedacht hat, die Klimaanlage einzuschalten? Mein Vater hat es am liebsten, wenn der Ventilator auf der zweiten Geschwindigkeitsstufe läuft und ein paar Meter entfernt vom Bett steht. Muss ich unbedingt hier sein? Ist meine Anwesenheit im Autosalon wirklich von grundlegender Bedeutung für die Entwicklung der menschlichen Rasse? Muss das Leben überhaupt weitergehen? Muss ich Schuldgefühle einem Mann gegenüber empfinden, der sich erst angesichts des Todes an mich erinnert hat?
    Wir kommen mit vollen Händen auf die Welt. Deshalb ballen wir als Neugeborene unsere Fäuste, da wir die wunderbarsten Geschenke in Händen halten, die man sich wünschen kann: Unschuld, Neugier, Lebenslust. Auch dieser Idiot, der jetzt vor mir sitzt, ist mit geballten Fäusten zur Welt gekommen. Und auch er hat irgendwann die Hände aufgemacht, um immer mehr unwichtige Dinge zusammenzuraffen und dabei Tag für Tag mehr von seinem wertvollen Schatz zu verlieren. Mit fünfzig Jahren ist gerade noch ein Bündel Papier übrig geblieben, mit dem er jetzt vor meiner Nase wedelt. Der Mann ist hochrot im Gesicht, seine Halsschlagader tritt hervor, und Tränen der Wut steigen ihm in die Augen. Der Neugeborene, der einst das Geschenk der Unschuld in Händen hielt, klammert sich nun an einen Vertrag, in dem schwarz auf weiß steht: Die Griffe an seinem SUV müssen schwarz sein, nicht verchromt. Der Zeitpunkt, um beruhigend auf einen Kunden einzureden, ist exakt definiert, aber so weit ist es noch nicht. Man muss abwarten, bis der Kunde sich heillos in seine Erregung hineingesteigert und zu einer verächtlichen Bemerkung verstiegen hat, normalerweise eine rüpelhafte Beleidigung nach dem Motto: »Ihr seid doch alle Diebe.« An diesem Punkt muss man kaltblütig genug sein und noch einen Moment abwarten, bis er ein letztes: »Jawohl, verschissene Diebe seid ihr!« ausgestoßen hat, um sich

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