Radio Miracoli und andere italienische Wunder
Claudio und reagiert weder auf meinen dummen Spruch, noch schämt er sich, wie erhofft.
Zwei Sekunden später sinkt sein Kopf wieder auf die Sofakante, und er schläft in derselben Position weiter, in der ich ihn angetroffen habe. Ich setze mich auf die andere Seite des Sofas, und bald ist außer dem Knacken der Rückenlehne nichts mehr zu hören. Es ist so still auf dem Land, viel zu still. Vielleicht kann ich deswegen nicht schlafen. Vielleicht sollte ich versuchen, eine mir vertraute nächtliche Geräuschkulisse zu kreieren und eine CD mit der entsprechenden Beschallung zusammenzustellen – mit Autolärm, in der Ferne aufheulenden Alarmanlagen, dem Klappern der städtischen Müllabfuhr, die die Mülltonnen entleert, klagenden Polizeisirenen. Sozusagen ein Stück »Urban New Age«.
Meinem Vater hätte es hier gefallen. Hin und wieder male ich mir aus, wie er auf der Veranda oder mit mir zusammen vor dem Kamin sitzt. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber ich kann ihn mir nur krank vorstellen, mit der Infusionsnadel im Arm und der Sauerstoffflasche neben sich. Wahrscheinlich, weil das der Vater ist, den ich gekannt und an den ich eine deutliche Erinnerung habe. Der andere, der ständig auf der Flucht war, hat nur unscharfe Bilder bei mir hinterlassen.
34
Heute ist einer jener besonders glücklichen Tage für die Nachrichtensender. An der Wetterfront herrscht Alarmstufe rot. Seit sechsunddreißig Stunden regnet es ununterbrochen, die Städte sind überschwemmt, die Bäche haben sich in reißende Flüsse verwandelt, die Hügel rutschen ab, und die Journalisten schwappen über.
Es ist unmöglich, einen Fuß vor die Tür zu setzen, und so müssen wir uns gezwungenermaßen im Haus beschäftigen. Ich hasse Gruppenarbeit. Mehr oder weniger läuft das immer nach demselben Schema ab. Ich hole mir eine Leiter und einen Schraubenzieher, um eine Lampe zu montieren, doch kaum setze ich den Fuß auf die erste Sprosse, kommt Claudio und ermahnt mich: »Vorsicht! Ein Cousin von mir ist mal von der Leiter gefallen und hat sich mit dem Schraubenzieher einen Lungenflügel durchbohrt.« Kaum lege ich Hand an die Lampe, herrscht Fausto mich an: »Lass mich das machen. Das kann ich besser.« Kaum berührt Fausto den ersten Draht, taucht Sergio auf und meint: »Was machst du da für einen Scheiß. So wird das ja nie was.«
Wir beschließen, die Mansarde zu streichen, die nach den Reparaturarbeiten auf dem Dach wirklich schlimm aussieht. Damit wir uns nicht allzu sehr auf die Nerven gehen, teilen wir den Raum auf. Jeder bekommt eine Seite. Während wir vor uns hin pinseln, hören wir uns im Radio ein Wunschkonzert an. Wir haben die Sendung durch Zufall entdeckt und sind inzwischen verrückt danach. Der Moderator ist noch keine dreißig Jahre alt und muss tagtäglich den verbalen Dünnschiss einsamer, trauriger alter Weiber über sich ergehen lassen. Ich könnte schwören, dass wir seit dem ersten Mal noch keine Anruferin erlebt haben, die jünger als sechzig Jahre alt gewesen wäre. Heute stammt der erste Musikwunsch samt Widmung von einer gewissen Anita. Wild gestikulierend bringen wir uns gegenseitig zum Schweigen. Die Stimme der Frau klingt anklagend und düster. »Ich heiße Anita di Colle Brunito und wollte dieses Lied Tonio widmen, auch wenn er mich verlassen hat und ich noch immer nicht weiß warum.« Aber wir, die wir mittlerweile Experten sind, wir wissen genau, dass die Wahl des Musiktitels diese an sich schon herzergreifende Widmung noch um einiges in ihrer Wirkung verstärken kann. Also verkneifen wir uns das Lachen und unsere Kommentare, bis die ersten Takte der Melodie erklingen. Die Trauernde, die sich noch immer nicht mit Tonios Flucht abfinden kann, hat sich für Com’è triste Venezia von Charles Aznavour entschieden.
»Da kommt Freude auf!«, brüllt Fausto.
»Was glaubt ihr, wie schnell dieser Tonio jetzt wieder angelaufen kommt«, bemerkt Sergio trocken.
Miteinander zu lachen und herumzualbern tut uns gut – wenn auch auf Kosten armer alter Damen wie der Signora Anita. Aber dadurch gelingt es uns, die ideologischen Gräben zu überwinden, die uns voneinander trennen. Gemeinsam über das Leid anderer zu lachen hilft uns, den Kommunisten Sergio und den Faschisten Fausto zusammenzuspannen und diese beiden wiederum mit dem Angsthasen Claudio und dem Nichtsnutz Diego.
Kaum ist unser Lachen über den weiblichen Fan von Charles Aznavour verklungen, geht es Schlag auf Schlag mit den nächsten Anruferinnen weiter.
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