Radio Miracoli und andere italienische Wunder
hoher See ausgesetzt hat, mitten in der Nacht und bei hohem Wellengang. Er wurde von seiner Gruppe getrennt und wusste nicht, was aus seinem Bruder geworden war. Samuel spricht ein hervorragendes Englisch, und so war er der Ansicht, dass er keinerlei Probleme haben dürfte, doch stattdessen ist er auf der Suche nach Hilfe einen ganzen Tag lang vergebens umhergeirrt. Erst als er auf eine Gruppe von Landsleuten stieß, erfuhr er, dass sein Bruder ertrunken war, und mit ihm zusammen acht weitere Personen. Seitdem ist er überzeugt, am Tod seines Bruders schuldig zu sein, weil es ihm nicht gelungen war, rechtzeitig Hilfe zu holen. Doch das würde er nie zugeben. Fragt man ihn, gibt er den Schleusern die Schuld, die sie in dunkler Nacht auf dem Meer ausgesetzt haben. Aber seit jenem Tag hat er angefangen, wie besessen Italienisch zu lernen; er liest und lernt, was immer ihm in die Finger kommt.
In dieser anarchistischen, multikulturellen Oase, umweht von einem Hauch linker Nostalgie, kann Sergio nun seinen persönlichen Traum ausleben. Er arbeitet Seite an Seite mit den afrikanischen Genossen, teilt die Mahlzeiten mit ihnen und lässt über jede Entscheidung abstimmen.
»Genossen, stimmen wir ab, welche Arbeit wir als Nächstes in Angriff nehmen: Installation des Heizkessels oder Auslegen der Isolierplatten im Dachboden?«
Vier Hände schnellen in die Höhe zugunsten des Isoliermaterials, und Genosse Sergio führt Buch über den Willen des Volkes.
»Ein Bierchen, bevor wir anfangen?«
Wieder schnellen vier Hände in die Höhe.
Nach dem großen Erfolg der Operation SMS ist Fausto wieder hoch motiviert wie zu besten Zeiten und geht damit allen gehörig auf den Geist. Ganz allein hat er zwei Hektar Rasen gemäht und hätte sein Werk zweifellos unter Einsatz einer Nagelschere vollendet, wenn ich ihn nicht unterbrochen hätte, damit er an unserer Internetpräsenz arbeitet.
Der Graf i ker, der unsere Website erstellt, hat uns gebeten, ihm den Text zu schicken. Ich setze mich an den Computer und schreibe unter das Foto eines der Schlafzimmer folgende Bildunterschrift: »Doppelzimmer mit Aussicht und Bad.«
»Wollen wir wirklich nur ›Doppelzimmer‹ schreiben?«, fragt Fausto.
»Soll ich ›groß‹ hinzufügen?«
»Ja, mir kommt das alles ein wenig dürftig vor … auch ›Aussicht‹ klingt so schlicht …«
»Soll ich ›schön‹ dazuschreiben?«
»Ja, aber uns wird doch wohl noch etwas Besseres einfallen – sinnliche Adjektive, die einen zum Schwärmen bringen. Man sieht gleich, dass du von Werbung nichts verstehst.«
Ich überlasse ihm freiwillig die Tastatur, denn ich verstehe wirklich nichts davon. Dieser Werbejargon lässt mich völlig kalt. In den Katalogen, die ich im Autohaus ausgelegt habe, musste ich immer denselben Schwachsinn lesen: Die Motoren gehören einer völlig neuen, futuristischen Generation an, die Motorleistung ist außerirdisch gut, der Fahrgenuss nicht mehr zu toppen, vom Fahrkomfort ganz zu schweigen, und dieses Sonderangebot gibt es nur ein Mal in hundert Jahren. Adjektive sind das Doping unserer Gesellschaft. »Hallo, Schönheit«, »hallo, Großer« – sogar die Begrüßungen fallen immer bombastischer aus.
Nach einem letzten, mit dem Gestus eines Klaviervirtuosen ausgeführten Druck auf die Tastatur ist Fausto bereit, mir seinen Text zu präsentieren. »Großzügiges Doppelzimmer mit Französischem Bett, atemberaubendem Ausblick und luxuriösem Bad mit edelster Ausstattung und Badewanne.«
»Ausgezeichneter Text, ausgesprochen flüssig formuliert, ausgestattet mit außergewöhnlicher Prägnanz«, erwidere ich in der Hoffnung, dass ihm der leichte Sarkasmus nicht entgehen möge.
Aber Fausto begreift nichts, sondern macht sich wieder an die Arbeit mit der Duldermiene eines Menschen, der es leid ist, besser als die anderen zu sein, und der viel lieber ein ganz normaler Mensch wäre. So einer wie ich, zum Beispiel.
Sergio ruft mich. Er ist der Ansicht, dass wir Vito mal wieder an die frische Luft führen sollten. Da Vito weder Afrikaner ist noch sonst irgendeiner benachteiligten Randgruppe angehört, wird diese Entscheidung leider nicht zur Abstimmung gebracht.
Unten im Keller platzen wir in das Spiel des Jahrhunderts. Auf dem alten Fernsehapparat, der als Bildschirm für die Videospiele dient, läuft gerade Caserta gegen Manchester United, bei einem Stand von vier zu zwei. Wir holen den Alten aus dem Bad und bringen ihn aus Rücksicht auf die beiden ungeduldigen Fußballfans
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