Radio Miracoli und andere italienische Wunder
Aussicht zu stellen. Wir haben sogar die Möglichkeit besprochen, sie irgendwohin zu verfrachten, damit sie wenigstens ein Mal zu Hause anrufen können. Doch das Risiko ist zu hoch, die Situation könnte außer Kontrolle geraten. Dann kommt uns die Idee, dass die beiden Briefe schreiben könnten, die wir zustellen würden. Diese Aussicht begeistert sie nicht sonderlich, das sieht man ihnen deutlich an, aber sie setzen sich hin und beginnen zu schreiben. Nach einem halben Tag voller Ächzen und Stöhnen, zusammengeknüllter Briefbögen und peinlicher Orthografiefragen verzichten sie dankend.
Während ich meinen Koffer packe, laufen Sergio und Vito mir in meinem Zimmer vor den Füßen herum und versuchen, eine Lösung zu finden.
»Vielleicht können wir es ja so einrichten, dass sie ein Lebenszeichen von ihren Familien bekommen«, sagt Vito. »Wenn ich noch Eltern hätte, wüsste ich schon gern, ob es ihnen gut geht«, fügt er hinzu.
»Ja, und wie wollen wir das machen? Sollen wir vielleicht im Dorf nachfragen?«, meint Sergio.
Ich hätte gern eine originelle Idee, nicht zuletzt, um die beiden loszuwerden, aber ich bin mit meinen Gedanken bereits weit weg. Also versuche ich, einen Köder auszuwerfen.
»Meiner Meinung nach sollten wir eine weitere List von Vater Staat anwenden«, sage ich.
»Häh? Und welche?«, fragt Sergio.
»Zwei junge Männer, eingeschlossen in einem Zimmer, überwacht und weggesperrt mit dem Versprechen auf eine finale Prämie, die ihr Leben verändern wird … klingelt da nichts bei dir?«
»Mann, klar, wie in einer Realityshow!«
Ich habe keinerlei Vorstellung, worauf das hinauslaufen soll, sondern überlege nur laut in der Hoffnung, dass es in Sergios Kopf »klick« macht.
»Genau, und was macht man in den Realityshows, wenn die Kandidaten anfangen, ungeduldig zu werden, oder apathisch reagieren? Was erfinden die Macher, um die Kontrolle wiederzuerlangen?«
Ein Leuchten huscht über Sergios Gesicht.
»Genial! Das ist wirklich genial!«
Vito schaut uns an, als wären wir verrückt. Er hat nicht ein Wort verstanden, und auch ich habe nicht den blassesten Schimmer, was Sergio aus meinen Worten herausgehört hat. Tatsache ist, dass er mir einen letzten, bewundernden Blick zuwirft, ehe er mit Vito aus meinem Zimmer eilt und mich endlich allein lässt.
Die Fahrt zum Bahnhof verläuft äußerst einsilbig, noch einsilbiger die Fahrt im Zug. Elisa hat sich so weit wie möglich weggesetzt und telefoniert die ganze Zeit. Zuerst warte ich noch darauf, dass sie das Gespräch beendet, zu mir kommt und sich mit mir unterhält. Dann verstehe ich, dass diese endlosen Telefonate nur den einzigen Zweck haben, mich von ebendiesem Ziel abzubringen. Ich beschließe, auf die Toilette zu gehen. Ich laufe den Gang entlang in Richtung Elisa, die sich gerade lachend mit einer Freundin unterhält, wie ich glaube. Kaum sieht sie mich kommen, lehnt sie sich an das Fenster und dreht mir den Rücken zu. Um ihr zu zeigen, dass eine derartig offensichtliche Geste nicht nötig ist, betrete ich die Toilette, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. Die Kabine ist ekelerregend. Während ich Elisas Stimme lausche, versuche ich, den Mut aufzubringen, auf jenen Berg aus braun verdrecktem Klopapier zu pinkeln, der bis zum Rand der Toilettenschüssel reicht. Unglaublich, aber wahr. Es gelingt mir tatsächlich, auch dieser Situation noch ein wenig Romantik abzugewinnen. Das schmutzige Ambiente hat in mir die Erinnerung an eine wichtige Episode meiner persönlichen Entwicklung wachgerufen. Ich bin sechs Jahre alt und kippe einen kräftigen Schuss Badeschaum in die Toilette. Anschließend ein wenig Zahnpasta, einen Spritzer Deodorant und zum Abschluss eine üppige Portion meines absoluten Favoriten: Rasierschaum. Der spiralförmige Haufen legt sich kompakt auf die Wasseroberfläche, ehe er ungefähr zwanzig Zentimeter tiefer sinkt. Er sieht aus wie eine Sahnetorte, und mir kommt die Idee, sie mit einigen Tropfen des Haarfärbemittels meiner Großmutter zu garnieren. Die Flasche in der Hand, halte ich wie versteinert inne, als meine Mutter in das Badezimmer eindringt.
»Was machst du da?«
Fehler Nummer eins: Ich habe die Tür nicht abgeschlossen. Fehler Nummer zwei: Ich war zu leise, und man weiß ja, dass Eltern nichts mehr misstrauisch macht, als wenn man sich zu ruhig verhält.
»Nichts«, antworte ich.
»Wie – nichts? Was ist das für ein widerliches Zeug? Was, zum Teufel, treibst du
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