Radio Miracoli und andere italienische Wunder
Kraft, um mich einzuholen, mich zu packen und mich zu verprügeln. Es dürfte jetzt fünf Jahre her sein, dass ich den letzten Sprint hingelegt habe, und ich frage mich, wie lange ich das noch durchhalte. Prompt erhalte ich Antwort von meinen Beinen: noch ein paar Hundert Meter. Die Schritte hinter mir scheinen immer näher zu kommen, ich spüre bereits den keuchenden Atem meines direkten Verfolgers im Nacken. Jetzt hat er mich gleich eingeholt, und ich überlege, mir einen Ast, eine Flasche oder irgendetwas anderes Nützliches zu greifen, um mich mit letzter Kraft zu verteidigen. Wenn er mich hier im Dunkeln und mit leeren Händen erwischt, kann die Sache schlimm ausgehen.
»Ja, ja, lauf nur! Früher oder später kriegen wir dich doch!«, ruft er mir hinterher.
Seine Stimme klingt heiser und abgehackt, er bleibt stehen. Das verleiht mir neue Kraft, um mit Anlauf den kleinen Hügel zu überwinden, der vor mir liegt.
»Besser, du lässt dich hier nicht mehr blicken!«, brüllt eine andere Stimme.
Als nächtlicher Rächer habe ich versagt, aber als Sportler genieße ich meinen Sieg, während ich vom Hügelkamm aus dem Rückzug meiner Gegner zuschaue.
Um zwei Uhr nachts erreiche ich das Haus, das hell erleuchtet vor mir liegt. Sergios Wagen steht vor der Tür, und aus dem Wohnzimmer höre ich die Stimmen von Fausto und Claudio. Gut, dann bin ich wenigstens nicht der Einzige, der hier eine traurige Figur abgibt.
Als ich in das Zimmer komme, sitzen sie alle mit Papier und Bleistift bewaffnet am Tisch und lächeln. Auch Elisa ist da, und sie ist die fröhlichste von allen. Ich bin so müde, dass ich von dem nun folgenden Gespräch kaum etwas mitbekomme, auch wenn ich mich daran beteilige.
»Diego! Wie bist du denn hierhergekommen?«, fragt Sergio.
»Mit dem Zug«, antworte ich.
»Wir auch … aber welchen hast du genommen?«, fragt Fausto.
»Du hättest mir simsen können, dann hätte ich dich am Bahnhof abgeholt«, meint Sergio.
»Ich bin gelaufen«, erkläre ich.
Fausto schaut mich fragend an. »Aber wie siehst du denn aus? Bist du wirklich mit dem Zug gekommen, oder bist du den ganzen Weg gelaufen?«
»Ich habe eine Abkürzung genommen.«
»Ist doch egal. Ich muss schon sagen, auf jeden Fall habt ihr euch alle wirklich sehr beeilt«, stellt Sergio fest.
Während die ersten Lügenmärchen aufgetischt werden, ziehe ich meine schlammverkrusteten Schuhe aus. Fausto erklärt, dass er gerade bei einem Freund gewesen sei, der ungefähr vierzig Kilometer von hier weg wohne: Wie hätte er es sonst wohl schaffen können, so schnell wieder hier zu sein. Und Claudio erzählt, dass er sich gerade in der Nähe des Bahnhofs aufgehalten habe, als ihn die SMS erreichte: Wie praktisch, habe er sich da gedacht, da könne er ja gleich wieder in den Zug einsteigen. Nachdem ich auch den zweiten Schuh ausgezogen und auf eine Zeitung gestellt habe, habe auch ich mir meine Rechtfertigung zurechtgelegt. Doch da kreuzen sich Elisas und meine Blicke.
»Ich habe es kaum erwarten können, wieder zurückzufahren …«, sage ich.
»Scheißweihnachten, wie?«, meint Fausto.
54
»Und die beiden Burschen im Keller? Wie haben sie Weihnachten verbracht?«, frage ich in der sicheren Erwartung, damit einen wunden Punkt anzusprechen.
Sergio gibt mir keine Antwort, sondern macht mir ein Zeichen, ihm leise zu folgen. Vorsichtig öffnen wir die Küchentür, und auf halber Treppe dringt bereits gedämpftes Schluchzen an mein Ohr. Die Klagelaute werden unvermittelt von heftigem Gelächter abgelöst. Mir läuft es kalt über den Rücken, und ich komme mir vor wie in einer Anstalt für geisteskranke Schwerverbrecher.
»Was geht da vor sich?«, frage ich.
»Seit heute Morgen sind sie in diesem Zustand …«, erklärt Sergio.
Er fordert mich auf, durch den Türspion zu spähen. Ich sehe die beiden von hinten, wie sie vor dem Fernsehapparat sitzen, auf dem zur Melodie von Sunday Morning Amateuraufnahmen über den Bildschirm flimmern. Aufgeregt rutschen die zwei Nachwuchs-Camorristi hin und her, deuten auf die Personen auf dem Schirm und fangen wieder zu schluchzen an. Als sie einen kleinen Jungen sehen, der über einen Ball stolpert, lachen sie zärtlich. Ein junges Mädchen, das mit traurigem Gesicht allein die Straße entlanggeht, entlockt Saverio einen tiefen Seufzer, und sein Kamerad bricht beim Anblick einer Frau, die traurig aus dem Fenster schaut, erneut in Tränen aus.
»Deine Idee war einfach genial«, sagt Sergio. »Mir war zwar klar,
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