Radio Nights
cool; Rudis Tod belastete mich nicht allzu sehr, privat hatten wir kaum in Kontakt gestanden. Ich war allerdings
der einzige auf seiner Beerdigung. Seine Freunde hatten wahrscheinlich Angst, sich durch die Sargwände anzustecken, sofern
es nicht bereits passiert war, vorher.
|66| Durch Frank hatte ich jetzt plötzlich mehr Zeit, kam erst gegen zwölf, eins ins
Your Sound
, las vormittags Bücher, hörte Platten, korrespondierte mit Hunderten Radiostationen, schrieb Bewerbungen, natürlich hauptsächlich
an öffentlichrechtliche, bekam aber kistenweise Absagen. Es wurmte mich, weil ich nicht wußte, wie ich das Thema anpacken
sollte, wie ich es überhaupt schaffen könnte, die Leute dazu zu bringen, mich anzuhören. Inzwischen hatte ich mir einen kleinen
Drei-Kanal-Mixer und ein halbwegs professionelles Mikro gekauft – und spielte zu Hause den Radiomann, moderierte Platten und
redete über das Wetter, nahm alles auf
Tapes
auf, wie wir Cassetten inzwischen nannten, Frank und ich; Frank träumte davon, eine Nummer-Eins-Band zu produzieren, die wie
eine Mischung aus
Culture Club
und
Camouflage
klang. Allerdings nicht lange. Sich mit Frank über Musik zu unterhalten war sehr amüsant: Er lebte völlig im Hier und Jetzt,
liebte Hits und Trends, wußte die Charts auswendig, favorisierte keine bestimmte Gruppe, sondern immer diejenige, die gerade
sehr erfolgreich war. »Bands müssen Hits haben, so läuft das Business«, erklärte er, als wenn er schon mindestens dreißig
Nummer-eins-Titel produziert hätte. »Man macht Musik, um einen
Hit
zu landen. Einer reicht. Dann hat man ausgesorgt.«
Von meinen Eltern hörte ich nichts, null, einfach gar nichts – bis auf die ganz, ganz gelegentlich nachgesandte Post, kommentarlos
in einen dicken Umschlag gepackt, alle paar Monate. War mir recht. Veronika sah ich auch kaum, eigentlich nie, irgendwie waren
unsere Tagesabläufe inkompatibel, aber wir telefonierten, auf nette, aber fast schon distanzierte Art: Ich wußte nicht, was
ich ihr erzählen sollte, schwatzte von tollen neuen Platten und den letzten Monatsumsätzen (die solide, aber nicht berauschend
waren), während sie eigentlich überhaupt nichts erzählte, einsilbig war, auch wenn ich eine gewisse Herzlichkeit zu spüren
glaubte. Häufig fragte sie mich nach Frauen, aber das war seit Liddy kein Thema mehr. Ich vermißte Liddy, vermißte sie
sehr
, und mußte täglich |67| an sie denken, schon morgens, wenn ich mir die Haare kämmte: Die langen Haare waren ihre Idee gewesen. Seit ihrem Verschwinden
hatte ich nichts mit Frauen gehabt, was über ein paar Drinks und einen – fast immer unerfreulichen – One-Night-Stand hinausging.
Keine, die ich traf, kam auch nur andeutungsweise an Liddy heran. Also ließ ich es.
Veronika wußte ebensowenig über unsere Eltern wie ich, wir frotzelten über Erbanteile und was mit dem Haus passieren würde,
wenn sie irgendwann nachts im Vollsuff in eine Baustelle kacheln oder sich auf andere, ähnlich originelle Weise aus dem Leben
entfernen würden. Das war’s aber auch.
Eines Nachmittags bat mich Veronika, sie zu treffen. Sie wohnte inzwischen – alleine – in einer
sehr
netten 4-Zimmer-Wohnung in Wilmersdorf, die ich vor Ewigkeiten mal besichtigt hatte, und lud mich in irgendeine Bar ein, am
Montagabend, das war ihr freier Tag.
Solche Läden mied ich normalerweise. Die Figuren an den Tischen fischten nach anerkennenden Blicken, ließen ihre dicken Uhren
unter den Jackettärmeln hervorlugen, waren gefönt und gestylt, teuer angezogen, braungebrannt, tranken Kir oder Martinis,
während der Barmann einen auf superwichtig machte, Augenbrauen hochzog oder anerkennend nickte, als käme es
irgendwie
auf sein Urteil an. Kam es wohl auch. Ich schob mich in eine Ecke, von der aus ich den Eingang sehen konnte, bestellte ein
Bier, was fast Aufsehen erregte, weshalb ich gleich noch eins bestellte, als das erste gebracht wurde, blätterte im
Billboard Magazine
, das ich mir, teuer-teuer, aus Amerika schicken ließ, und versuchte, mich daran zu erinnern, wie Veronika beim letzten Mal
ausgesehen hatte. Ich konnte es nicht. Kindheitserinnerungen drängten in den Vordergrund, die unschuldige Veronika, mit schmutzigen
Strümpfen im Nachthemd, ihr Gesicht, während sie mit dem Geschirrhandtuch nach mir schlägt, so was. Wann hatte |68| ich sie zuletzt gesehen? Scheiße, das war über ein Jahr her. Ein kurzes Treffen, möglicherweise
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