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Radio Nights

Radio Nights

Titel: Radio Nights Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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irgendeine Sicherung herausgeschraubt – bei mir. Mein kleiner Kumpel ging sofort in Habachtstellung,
     und ich wurde rot.
Selbstverständlich
wurde ich wieder rot. Schließlich lautete die Frage übersetzt: Willst du etwas mit mir anfangen? Das wußte sogar ich.
    Glücklicherweise kam in diesem Moment endlich ein Kunde in den Laden, der stinkende Punker von nebenan, ein lustiger Geselle,
     der sich nicht waschen wollte oder konnte und immer exakt dieselben Sachen trug, aber jede Woche alle |61| Neuerscheinungen kaufte, die auch nur nach Punk
rochen
. Er schlurfte zielstrebig auf die entsprechende Box zu – wir waren thematisch sortiert –, blätterte bis zu dem ersten Album,
     das er schon besaß – die neuesten Sachen standen immer vorne –, griff den Stapel, den er vorgeblättert hatte, ohne sich die
     Titel groß anzusehen, hob ihn umständlich heraus und brachte ihn zu mir. Ich notierte die Preise – der Punker zahlte am Monatsende,
     wahrscheinlich sparte er das Geld für Seife, Waschpulver und Klamotten. Nach nicht ganz zwei Minuten war der Spuk vorbei.
     Einmal hatte ich am Samstagmorgen absichtlich zwei Schlagerplatten zwischen die Punk-Neuerscheinungen gemogelt, und er hatte
     sie mitgenommen, danach blieb er allerdings zwei Wochen weg. Die Schlager brachte er nicht zurück, als er wieder antrat, aber
     er blätterte langsamer.
    Die Blonde hatte ihren Blick nicht von mir genommen, und auch mein kleiner Kumpel – na ja.
    »Und?«
    »Und was?« stellte ich mich blöd.
    »Hast du nun eine Freundin?«
    Nein
, sagte mein kleiner Kumpel.
Ausprobieren
, flüsterte er.
Vielleicht ist es besser als mit Liddy
. Es gab keinen Grund für diese Annahme, aber die entsprechende Sicherung war ja rausgeschraubt.
    »Mmh-mmh«, antwortete ich, deutete aber ein extrem leichtes Kopfschütteln an. Das konnte gut als
nein
durchgehen, insgesamt gesehen.
    Alles Weitere ging recht fix, ich staunte über mich, bekam nicht viel mit, war verkrampft, unbeweglich, erschüttert, aber
     es reichte nicht, um mich aus diesem seltsamen Zustand zu lösen, einfach
Stop
zu sagen und diese Scheiß-Sache zu beenden.
    Glücklicherweise war sie eine Touristin, würde am Sonntag abreisen, mußte sofort zurück zu ihrer Gruppe, glücklicherweise
     war Liddy übers Wochenende bei einer Freundin, unglücklicherweise überfiel mich eine maßlose Panik, gleich |62| danach, und sie hörte nicht auf, sondern wurde von Stunde zu Stunde stärker. Kaum, daß das Mädchen, von dem ich nicht einmal
     den Namen wußte, verschwunden war, schämte ich mich, auf eine Art, die ich nicht kannte, denn etwas ähnlich Fürchterliches
     hatte ich noch niemals getan – jemanden hintergangen, betrogen; es hatte noch niemals jemanden gegeben, bei,
mit
dem ich es hätte tun können. Und ich mochte es nicht.
    Es stand bombenfest, daß Liddy von dieser Sache Wind bekommen würde, und es stand ebenso bombenfest, daß damit das Ende kurz
     bevorstand. Ich heulte mir die Seele aus dem Leib, kramte sogar mein kleines kofferförmiges Transistorradio hervor, fummelte
     mir den milchiggelben Stöpsel ins Ohr und hörte Radio, aber diesmal half es nicht.
     
    »Ist wirklich alles in Ordnung mit dir?« fragte Liddy, als wir an der Bushaltestelle warteten. »Irgendwas bedrückt dich, oder?«
    Wie so oft hatte ich das Gefühl, daß Liddy inzwischen mehr über mich wußte als ich selbst, ein Gefühl, das ich
eigentlich
mochte – sonst. Obwohl ich fast ausschließlich von Radio sprach, günstigstenfalls mal über Platten, mehr Dinge, Themen kannte
     ich einfach nicht, schien sie in mir zu lesen, als stünde da irgendwo meine ganze Geschichte, nur für sie zu erkennen. Manchmal
     fragte ich mich erstaunt, was sie eigentlich an mir interessierte, denn wenn ich zusammenzählte, was ich ihr bot, kam eine
     recht kurze Liste heraus. Eigentlich nur die Überschrift.
    Ich schüttelte den Kopf. »Ich fühl’ mich einfach nicht besonders.«
    »Aha.« Sie musterte mich skeptisch, aber der Doppeldeckerbus war inzwischen eingetroffen.
    »Du kannst mit mir über alles reden. Das weißt du, oder?«
    »Mmh-mmh«, machte ich, deutete ein Nicken an, aber genaugenommen hätte auch das als
nein
durchgehen können. |63| Wir saßen auf der letzten Bank im Obergeschoß des Busses. Liddy hielt meine Hand, die ich schlaff in ihrer hängen ließ. In
     meinem Hirn rotierte es. Wenn sie es herausbekam, irgendwie, dann wäre es mein Tod, das Ende – nie wieder würde ich einer
     ähnlichen Frau begegnen,

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