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Radio Nights

Radio Nights

Titel: Radio Nights Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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sie, noch immer lächelnd.
    Meine Schwester war eine Nutte, eine offensichtlich gut verdienende Nutte. Ich spürte, daß ich nicht reif war für diesen Gedanken,
     während mich plötzlich gewaltige Schuldgefühle plagten, weil ich gelegentlich – seit Liddy allerdings nicht mehr – mit Veronika-Phantasien
     Selbstsex betrieben hatte. So ein Unsinn! Weg mit dem Thema, später drüber nachdenken.
    »Du bist meine Schwester. Das ist alles, was zählt.« Fast glaubte ich das selbst. Der Barmann brachte das nächste Bier, das
     Glas zwischen zwei Fingern haltend, und wir prosteten uns zu.
     
    Dann quatschten wir. Nicht viel über sie, sie machte ein paar Andeutungen über den Laden, in dem sie anschaffte und der ihr
     inzwischen zum gut Teil mitgehörte, darüber, wie anstrengend es ist, Nacht für Nacht saufen zu
müssen
– meines Erachtens der einzig positive Aspekt ihrer Tätigkeit –, und solche Sachen, Dinge, die mich berührten, aber nicht
     erreichten. Ich erzählte von meinem Plattenladen, der mir im Vergleich irgendwie popelig vorkam, schließlich hatten wir Margen,
     über die eine gut untergebrachte Edelhure nur lachen kann, brauchten für ihren Stundenumsatz einen ganzen Tag, aber gleichzeitig
     hatte ich das Gefühl, es irgendwie viel, viel richtiger zu machen als sie. Eine ganze Menge in unserem Verhältnis änderte
     sich zu diesem Zeitpunkt. Ich schüttelte |71| ungewollt alles ab, was mit Großeschwesterkleinerbruder zu tun hatte. Mein Leben, so dachte ich, verlief in deutlich angenehmeren
     Bahnen als ihres, von der langfristigen Perspektive ganz zu schweigen. Ein paar Augenblicke schämte ich mich für diesen Gedanken,
     dann aber fühlte ich mich irgendwie verantwortlich, wurde wahrscheinlich ein wenig vom Helfersyndrom gepackt; jedenfalls beschloß
     ich, Veronika langfristig da rauszuhelfen. Nicht heute, nicht morgen, irgendwann.
    Aber zuerst einmal war es Veronika, die mir half.
     
    Sie hörte sich eine ganze Weile an, was ich über meine Radioträume zu erzählen hatte, über meine zahllosen Bewerbungen, mein
     Ministudio und diese Dinge. Sie lächelte so freundlich, wie man nur irgend kann. Ich beobachtete sie, während ich erzählte,
     und hoffte, nichts an ihrem Gehabe und Verhalten wäre auf irgendeine Art
geschäftlich
. Ich hatte große Schwierigkeiten, Schwierigkeiten damit, diese meine Schwester und meine alte kleine große Schwester unter
     einen Hut zu bringen. Einen Sombrero. Mindestens.
    »So wird das nie was«, sagte sie dann. »Wenn du so weitermachst, hast du in zehn Jahren noch diesen bunten Plattenladen und
     träumst davon, der
Kasey Kasem
Deutschlands zu werden.«
    Wow, dachte ich. Sie kannte Kasey Kasem. Den erfolgreichsten Radiomoderator Amerikas, dessen Sendung
American Top 40
auf mehreren hundert Sendern lief, mindestens, und die auf Vinyl produziert und per Kurier durch die Staaten geschickt wurde
     – und nach Europa. Davon
träumten
deutsche Discjockeys noch nicht einmal.
    »Ich habe einen
Bekannten
«, sagte sie mit einem leicht angespannten Gesichtsausdruck. War nicht schwer zu erraten,
woher
sie den fraglichen Menschen kannte.
    »Und?«
    »Hast du schon mal was vom
Offenen Kanal
gehört?«
    Ich nickte. Gab’s noch nicht lange, ein paar Wochen, vielleicht |72| Monate. Freies Radio, freies Fernsehen, allerdings im Kabel, ohne jede Reichweite – und frei für jedermann. Jedermann, das
     hieß, daß da auch wirklich
jeder
seine Sendungen fabrizierte: Gurus, brabbelnde Vollidioten, versiffte Proleten, Leute mit fettigen
Perücken
– das Schlechteste vom Schlechten, Sendungen, die niemand anhörte oder ansah, außer, man war besonders übel drauf und hatte
     Lust auf sehr obskuren Spaß.
Offener Kanal
, das war die Spielwiese für eine sendungsbewußte Gruppe von Totalhirnis, denen es total egal war, was andere über das audiovisuelle
     Chaos dachten, das sie da fabrizierten: Die Vorhut der Regimenter von Talkshowopfern, die ein paar Jahre später die Fernsehkanäle
     mit ihrem Dünnschiß verstopften. Hutzlige alte Männer mit rutschenden Toupets, die siebtklassige Gesangskünstler anmoderierten,
     als wäre die deutsche Sprache gerade erst erfunden worden. Gruselig.
    »Die haben da professionelle Studios, richtig gute Technik. Ich weiß, daß man das nicht ansehen oder anhören kann, es ist
     wirklich großer Mist. Aber du könntest dort vernünftige Probesendungen machen und an die Sender verschicken. Und ab und zu,
     das
weiß
ich, hören wichtige Leute

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