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Radio Nights

Radio Nights

Titel: Radio Nights Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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sogar in ihrer Wohnung, kurze
     Blicke auf teure Möbel, komische Accessoires wie Porzellanpudel und Aschenbecher auf Ständern, ein fast scheuer Begrüßungskuß.
     Ihr Gesicht? Mußte ich irgendwie verdrängt haben. Braun, das wußte ich noch, irgendwie schmal, am Hals und an den Armen viel
     dicker Schmuck, an
den
konnte ich mich noch erinnern. Außerdem hatte sie einen Hund, so eine Kampftöle, riesengroß, sabbernd und furchteinflößend,
     der hatte mich wahrscheinlich abgelenkt. Weil sie ihre Terminplanung durcheinandergebracht hatte, war ich nach ein paar Minuten
     wieder abgedampft, trinken gehen mit Frank. Besser so.
     
    Dann kam sie. Also eigentlich kam eine
Tante
: Veronika sah sogar von weitem viel, viel älter aus, als sie war, Mitte Zwanzig oder so, geboren dannunddann, auch egal,
     Kopfrechnen sechs. Sie war dünn, aber nicht dürr,
unheimlich
braun, sehr stark geschminkt, tierisch teuer angezogen, aber ihre Gesichtshaut hatte etwas Pergamentartiges, ein Eindruck,
     der sich beim Näherkommen verstärkte, und außerdem sah sie einfach völlig anders aus als meine kleine große Schwester von
     damals, im Etagenbett. Mir wurde kalt, ich bekam eine Gänsehaut, aber Veronika lächelte, und das machte ein bißchen was gut.
     Als sie mich küßte, erstickte ich fast in irgendeinem Parfüm, das sie wie eine Wattejacke umhüllte.
    »Na, du«, sagte sie, nickte zum Barkeeper hinüber, der ein Glas anhob, woraufhin sie nochmals nickte – Stammgast-Verhalten,
     das war mir fast sympatisch: Stammgast zu sein, das ist ein gutes Gefühl, und jeder Mensch braucht eine Stammkneipe. Nur nicht
diese
.
     
    Das Offensichtliche ist manchmal am schwersten zu erkennen. Vor allem, wenn es ein übles Offensichtliches ist und wenn die
     Zusammenhänge auch noch irgendwie emotionsbehaftet sind. Während Veronika sich ziemlich elegant in den Stuhl schob und den
     Laden kurz abcheckte, irgendwie |69| geschäftsmäßig, wurden in meinem Schädel die Mauern von Jericho zerposaunt. Ich war ja kein Kind mehr. Gut, meine Lebenserfahrung
     beschränkte sich auf Liddy, den Laden und die Sauftouren mit Frank, sauber paritätisch verteilt auf präpotente Lederschlipsbars
     und Kneipen mit solidem Alkohol-Kippen-Belag auf dem ungewischten Tresen. Aber ein bißchen Erfahrung hatte ich inzwischen.
     Auch mit Sex gegen Kohle.
    Ich erwiderte die Begrüßung, ließ ein paar Sekunden ins Land gehen und sagte dann ängstlich und vorsichtig: »Vero nika , du machst es gegen Geld, oder?«
    Keine Ahnung, was für ein Gesicht ich dazu auflegte, aber Veronikas Gesicht, unter der dicken Schutzschicht aus Wasauchimmer,
     verzog sich gleichzeitig schmerzhaft und erleichtert. Dann nickte sie langsam.
    »Natürlich. Seit Jahren schon.« Der Barmann brachte irgendeinen pinkfarbenen Drink, ich bestellte ein weiteres Bier. Er zog
     die Augenbraue hoch, in Veronikas Richtung, und es dauerte einen Moment, bis mir klar wurde, daß das etwas hieß, was mit ihrem
     Geschäft und mir als einem ihrer möglichen Kunden zu tun hatte:
Baby, mit was für Leuten mußt du es denn treiben – das hast du doch nicht nötig.
Er wußte schon viel länger, was mir gerade erst klargeworden war. Das kalte, hilflose Gefühl stellte sich wieder ein.
    »Scheiße«, sagte ich, als er wieder weg war. »Du siehst aus, als wärst du Ende Dreißig.«
    »Ich fühle mich auch so«, gab sie zu. Und sah traurig aus.
    Ich wußte nicht, was ich sagen sollte, staunte über die Situation, zog in Erwägung, irgendwas zu sagen wie ›Du bist doch intelligent,
     kannst doch was anderes machen‹, sparte es mir aber, wer war ich denn? Der kleine Bruder. Wahrscheinlich hatte sie schon gegen
     Geld gefickt, als ich noch im Etagenbett lag. Egal. Oder? Ich war verstört, auf seltsame Art berührt, hatte Angst um sie,
     obwohl mir gleichzeitig bewußt war, daß es viel zu spät für dieses Gefühl war, und die Hilflosigkeit wuchs.
    |70| »Ach, Donny, laß uns bitte nicht da drüber reden«, sagte sie matt, wahrscheinlich auch ein bißchen hilflos. »Ich mache, was
     ich mache, und das schon so lange, daß es einfach nichts bringt, das jetzt zu diskutieren.« Veronika pausierte kurz. »Ich
     kann mir vorstellen, daß sich das für dich schrecklich anfühlt. Für mich ist es auch nicht immer
schön
.« Sie nahm einen Schluck von dem pinkfarbenen Drink, lächelte schließlich, und ich beobachtete fasziniert, wie unheimlich
     professionell man
trinken
kann.
    »Magst du mich jetzt nicht mehr?« fragte

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