Radio Nights
Bänder vor, ließ uns probesprechen,
wir schnitten einige Stücke zusammen, cueten Platten, fädelten Bänder ein. Vera verhielt sich ziemlich nett, behandelte uns
nicht
wie Vollidioten, obwohl sich die anderen drei Delinquenten deutlich als solche erwiesen, überhaupt nichts auf die Reihe bekamen,
Unsinn faselten, Platten zerkratzten und niemals die Stelle fanden, auf die man eine Platte cuen oder das Band drehen mußte,
um sauber zu starten. Am Ende der Veranstaltung buchten wir zwei Produktionsstunden und einen Sendetermin. Wir
mußten
senden, was wir produzierten. Es war nicht möglich, die Studios einfach so zu nutzen.
|78| Vera lächelte mich an; das tat sie, seitdem ich vor dem Mikrofon gesessen hatte. Wir gingen einen trinken, Vera, Frank und
ich. Da Frank an der Reihe war, landeten wir im
V.I.P.-Club
in der Dachetage des Europacenters, dem mit Abstand widerlichsten Tanzladen der Stadt, bevölkert von lauter Möchtegerns, aufgemotzten
Sekretärinnen, erbärmlich aufgetakelten Typen und einem unglaublich schlechten Diskjockey, der sich für eine gottähnliche
Kreatur hielt. Vera fühlte sich offensichtlich unwohl, was mich daran erinnerte, wie hoch meine Kompromißbereitschaft Frank
gegenüber war und daß ich ihn bei nächster Gelegenheit mindestens in die
Linde
, besser noch, einen schlimmeren Laden schleppen müßte. Es lief
Material Girl
, als sich Vera zu mir beugte und sagte: »Du hast eine tolle Stimme.«
Ich nickte und sah mir die Frau genauer an. Es entstand ein Mix aus maßloser Melancholie –
Liddy
– und dem Bedürfnis, mit einer ganz normalen, schlichten Frau,
die nicht gegen Geld fickte
, irgendwas anzufangen. Vera war recht hübsch, ein ganz bißchen pummelig, was sich aber nur an Wangen und Oberarmen zeigte,
hatte ziemlich große, braune Augen, lange dunkelblonde Haare, war sechsundzwanzig, vielleicht ein wenig älter, und reichte
mir gerade bis zur Schulter. Niemand, in den ich mich verlieben konnte. Aber irgend etwas zog mich in diesem Augenblick stark
zu ihr hin.
Frank stand auf, um zu tanzen. Der dämliche Diskjockey hatte tatsächlich Depeche Mode aufgelegt,
Master And Servant
, sehr Avantgarde, mutig in diesem Laden. Frank zog sich den Schlips zurecht, kontrollierte seine aufgekrempelten Jackettärmel,
glättete den Sitz des nach außen gedrehten Seidenfutters, grinste, verschwand. Mein Gin-Tonic glühte im UV-Licht, ich fühlte
mich wohl und unwohl zugleich, hatte Angst, sah mich kurz vor einem Verrat, konnte aber das Bedürfnis, mich Vera zu nähern,
nicht abschütteln und es genausowenig erklären. Ich fragte sie, ob wir nicht irgendwohin verschwinden könnten, und sie sagte:
»Klar, gehen wir zu mir.«
Und das taten wir dann auch.
|79| In ihrer Studentenbude, einer 1-Zimmer-Wohnung in Neukölln – spärlich möbliert, große Mengen Bücher, vor allem Fachliteratur,
Kachelofen, muffiges Treppenhaus –, tranken wir Weißwein, weil Vera nichts anderes da hatte, und redeten über Radio. Es war
das erste Mal für mich, daß ich mit jemandem länger über Radio sprach, der selbst etwas damit zu tun hatte, wenn auch auf
niedrigem Niveau, vergleichsweise –
Offener Kanal
hat mit echtem Radio so viel zu tun wie Matchbox-Autos mit der Formel 1. Natürlich hatte ich viele Versuche unternommen, mit
Redakteuren, Produzenten und DJs ins Gespräch zu kommen. Aber dies war das erste Mal, bei dem ich auch eine Rolle spielte.
Vera war offensichtlich ziemlich hingerissen von mir – und wollte mir helfen. Sie hatte ein Praktikum bei einem öffentlichrechtlichen
Sender vor sich, sie kannte ein paar Leute. Daß ich eine Sendung im
Offenen Kanal
produzieren wollte, hielt sie für eine gute Idee. Während ich nicht so richtig wußte, ob ich mich auf das Gesprächsthema,
den wahrscheinlichen weiteren Verlauf der Nacht, Liddy, Veronika oder alles auf einmal konzentrieren sollte, skizzierte Vera
den Ablauf einer Sendung. Ich mühte mich ab, die Gedanken auf das Thema zu lenken, was nicht so leicht war, da ich selbst
nicht die geringste Idee davon hatte, was zur Hölle ich senden sollte.
Senden
. Eine eigene Radioshow. Es traf mich wie ein Blitz, aber letztendlich knallte er dann doch ein Stückchen vorbei, dafür war
nämlich mein Kopf zu voll.
»Ein Magazinformat eignet sich am besten. Du mußt ein Thema finden, Beiträge zusammenstellen, die richtige Musik, eine Kennung,
einen guten Titel. Zuhören werden dir nur wenige,
ganz
wenige,
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