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Radio Nights

Radio Nights

Titel: Radio Nights Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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von
Sound-Fashion -Kun den
hatten versucht, mir das Geigenintro vorzusummen. Eine spanische Sängerin, von der ich noch nie gehört hatte. Raphaela Irgendwas,
     halber Name hinter dem Preisschild, das sie nicht abgelöst hatte; ich machte das immer zuallererst.
    »Meine Familie?« fragte ich zurück, um etwas Zeit zu gewinnen. Ich zog »Running On Empty« aus dem Regal, sah mir zum zehnmillionsten
     Mal das Cover an. Die Straße in der Wüste, an deren Ende ein glänzendes Schlagzeug steht – so ähnlich sah ich mein Leben,
     mit einem glänzenden Mikrofon am Ende der Straße. In einer »Mork vom Ork«-Folge hatte ich entdeckt, daß dieses Cover in Mindys
     Wohnung an der Wand hing, direkt neben der Eingangstür. Ich war nicht sicher, ob ich das gut oder schlecht finden sollte.
    Liddy blickte auf, lächelte, als sie sah, was ich in der Hand hielt. »Ja. Ich weiß nichts über deine Familie.«
    »Machst du Tee?« fragte ich, grübelte, was ich von meiner Familie erzählen könnte, und hoffte, sie würde das Thema lassen.
    »Klar.« Sie ging in die Kochecke, ein paar aufpolierte Kommoden vom Trödler hinter einem Vorhang aus dickem Wollstoff, zweiflammiger
     Elektrokocher. Bei aller Einfachheit |86| hatte Liddys Wohnung eine gewisse Würde, war im Gegensatz zu meiner von ergreifender Persönlichkeit. Das erstaunte mich.
    Ich las die Besetzungsliste von »Running On Empty«, obwohl ich sie auswendig wußte.
    »Laß dir nicht alles aus der Nase ziehen«, sagte sie mit einem gekünstelt nörgelnden Unterton, ließ die Regler des Elektrokochers
     klackern. »Das interessiert mich wirklich.«
    »Warum?«
    Ihre schwarzen Haare flatterten am Wollvorhang vorbei, die grünen Augen fixierten mich.
    »Verdammt, weil ich es wissen will. Es ist schon schwer genug, etwas über dich zu erfahren, das nicht mit Radio oder Schallplatten
     zu tun hat. Ein
paar Sachen
kannst du doch erzählen, ohne zu viel zu riskieren. Oder?«
    »Riskieren?« murmelte ich, sogar für das Plattencover unhörbar. Es schepperte, Liddy sagte »Scheiße«, bückte sich. Sie war
     sauer. Warum nur?
    Ich stellte die Platte zurück und setzte mich auf die Cordcouch. Liddy redete, aber offensichtlich mit sich selbst, jedenfalls
     nicht so laut, daß ich etwas verstehen konnte, das Gebrubbel mischte sich mit dem einsetzenden Geblubber des Teewassers. Beides
     verstummte; Liddy hatte die Pfeife auf den Wasserkessel gesetzt.
    »Meine Eltern sind die letzten Arschlöcher«, sagte ich.
    »Was?«
    »Meine Eltern sind Arschlöcher. Säufer. Sie …« – ich wußte nicht, wie ich es erklären sollte.
Was
ich erklären sollte.
    »Sie sind eben Arschlöcher«, wiederholte ich zum dritten Mal.
    »Aha«, sagte Liddy, ein bißchen rot im Gesicht, was sehr hübsch aussah, und stellte das Teegeschirr auf den Tisch. »Arschlöcher
     also. Das erklärt vieles.« Sie grinste schief.
    »Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll … wie sind denn
deine
Eltern?«
    |87| Eigentlich interessierte mich das nicht, null. Es war bedeutungslos – Liddy stand vor mir, ich sah sie an, konnte sie sogar
     anfassen, ihr zuhören, alles mögliche mit ihr machen. Was scherten mich da ihre Eltern? Ich hatte mich noch nie für die Familie
     von irgendwem interessiert, war eigentlich immer davon ausgegangen, daß es bei allen katastrophal ist, more or less. Eltern
     und Kinder passen nicht zusammen, hatte ich herausgefunden. Man sollte sie getrennt aufbewahren.
    Sie zog die Stirn in Falten. »Wie meine Eltern sind? Sie sind mein Zuhause, meine Geborgenheit, meine Lehrer, mein besseres
     Ich.« Sie fixierte das Teekännchen aus Ton, vielleicht, um mich nicht ansehen zu müssen. Der Teekessel begann zu pfeifen.
    Sie ließ ihn pfeifen.
    »Sie bedeuten mir sehr viel. Wir sind eins, sie und ich.«
    »Verstehe.« Ich verstand nichts.
    »Wir gehen sehr partnerschaftlich miteinander um, eigentlich schon immer, solange ich denken kann. Meine Mama hat mir sehr
     früh das Gefühl gegeben, ein vollwertiger, gleichberechtigter Mensch zu sein. Und mein Vater hat mich Verantwortung gelehrt,
     Nächstenliebe, Respekt. Er war Pfarrer.«
    »Er ist tot, oder?« fragte ich, um irgendwas zu sagen.
    Sie nickte, ihr Gesicht wurde ein bißchen grau. Immerhin hatte sie in der Gegenwartsform von ihm gesprochen – seinen Tod hatte
     sie mal angedeutet, aber ich hatte nicht richtig zugehört.
    »Seit drei Jahren, ja.«
    Das Verstummen des Pfeifgeräusches und ein Klacken aus der Küche verrieten, daß der Aufsatz von der

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