Radio Nights
Albumcover an, auf dem der gute alte Jackson in Schwarzweiß aus dem Wasser auftaucht,
und wußte nicht, was ich sagen sollte.
Dann stapfte ich zurück in die Station, und hatte Bammel, irrsinniges Lampenfieber, wie nie zuvor während meiner Karriere.
Was tat ich hier? Ich wollte entspannen, ausspannen, ein wenig Abstand gewinnen. Wollte ich das? Hatte ich nicht eigentlich
genug Abstand zu allem, was radiomäßig in Berlin passiert war? Ich wußte es nicht. Egal, zu spät. Kneifen ging nicht, außerdem
wollte ich senden. Unbedingt. Eigentlich wollte ich nichts anderes, nie. Meine Hände zitterten, ich rauchte sieben Zigaretten
auf dem kurzen Weg, und sie schmeckten scheiße, draußen rauchen in der Kälte schmeckt eben einfach scheiße, immer, aber das
war mir Wurst.
Kranitz hatte einen Techniker aufgetrieben, für Notfälle, ansonsten wären wir alleine in der Station, bis kurz vor Mitternacht,
da wollte der Wuschelkopf vorbeikommen und nach dem Rechten sehen.
Noch zwanzig Minuten. Der Trailer lief wieder, ich zitterte, als ich meine Stimme hörte. Der Unterschied, hier zu senden,
war, daß die Anonymität fehlte, in Marbrunn gab es so was nicht. Wahrscheinlich wußte jetzt schon jeder in der Stadt, wer
ich war und was ich tat. Und morgen würden sie |172| mich freundlich grüßen, oder die Augenbrauen hochziehen. Dachte ich mir. Ich dachte vieles, und nicht alles hatte mit Radio
zu tun.
Der Techniker erklärte mir die Telefonanlage. Mein Vorgänger gab das Pult frei, kurz vor vier, ich startete das Band mit den
Nachrichten, die letzten für heute. Keine Nachrichten während meiner Sendung. Noch zwei Minuten. Ich sprang auf, rannte noch
mal aufs Klo, pinkelte in Rekordzeit, sprintete zurück ins Studio, cuete den erstbesten Titel –
Do they know it’s Christmas
, diesen Schmachtfetzen, den der notorische Helfer Bob Geldof und ein paar britische Popmusiker unter dem Namen
Band Aid
mal für ein Charity-Projekt aufgenommen hatten, fand in der Kürze der Zeit einfach nichts Besseres, und dieser Titel lief
tausendfach heute. Aber das machte nichts. Ich zog mein Mikro hoch, wünschte frohe Weihnachten.
»Heute gibt es Mitmachradio in Marbrunn.« Ich warf einen Blick auf den Techniker, fröstelte ein bißchen dabei, mich über Kopfhörer
zu hören. Er zwinkerte mir zu. »Mein Name ist Donald Kunze, ich bin euer Weihnachtsmann, und dies hier ist
FunFun Radio
Marbrunn. Wenn ihr alleine seid oder zu mehreren, wenn euch mulmig ist oder ihr fröhlich seid, wenn ihr was zu sagen habt
oder einfach quatschen wollt – ruft mich an. Unsere Nummer ist … äh.« Der Techniker war aufgesprungen und deutete auf die
Studiowand hinter mir, da hing ein Poster der Station, mit dem ekligen Logo. Und der Telefonnumer. Ich sagte sie an und startete
den ersten Song, irgendwas von
Aztec Camera
. Atmete durch.
Der Rest lief von selbst. Während der ersten Stunde blieb es ruhig, ich erzählte, daß mir Weihnachten früher nichts bedeutet
hatte, dafür heute aber um so mehr (obwohl ich nicht genau wußte,
was )
, las Tickernachrichten vor, die der Techniker reinreichte, aber nur positive, pendelte mich mit der Musik ein, redete ein
paar Minuten mit einem abgefahrenen, aber freundlichen Typen, den seine Freundin verlassen hatte, |173| gestern. Ab der zweiten Stunde hatte ich praktisch ununterbrochen Anrufer auf Sendung. In der dritten Stunde kamen die ersten
Besucher, brachten Kekse, setzten sich in den Vorraum, hörten zu, quatschten, rauchten, es wurden immer mehr, einer, der Typ,
den seine Freundin verlassen hatte, brachte tatsächlich einen Weihnachtsbaum mit, so ein kleines Plastikding mit fitzelkleinen
elektrischen Kerzen. In der vierten Stunde rief der Chef der Brauerei an, erzählte mir, daß er und seine Familie zum ersten
Mal den Weihnachtsabend mit Radiohören verbrachten. Fünfhundert Leute könnten sich ab sofort beim Pförtner der Brauerei je
eine Kiste
Marbrunner Dunkel
abholen. Zwanzig Minuten später rief der Pförtner an und teilte mit, daß die Kisten weg seien, eigentlich schon seit ein paar
Minuten, aber er war vorher einfach nicht durchgekommen. In der fünften Stunde sammelten sich die ersten Besucher draußen,
weil der Vorraum voll war. Das Telefon glühte. Ich spielte vielleicht fünf, sechs Titel, den Rest der Zeit verquatschte ich
mit den Leuten, ließ es einfach laufen. Es war kurz vor zehn, als die drei Inhaber auftauchten, mit Liddy im Schlepptau. Kranitz
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