Radioactive (Die Vergessenen) (German Edition)

gehört habe. Zu spät bemerke ich, dass ich damit nun doch die Aufmerksamkeit auf mich ziehe. Ich schaue erst empor, als sich der Bereichsleiter bereits missbilligend vor mir aufbaut.
    „ Was tust du da?“, will er verständnislos von mir wissen. In seinen Augen lese ich deutlich, was er über mich denkt. ‚Verrückte!’
    „ Musik“, entgegne ich schlicht und klopfe wie zur Bestätigung noch ein paarmal auf den Tisch.
    „ Ich werde dich melden“, droht er mir erneut. Aber was soll schon passieren? Es ist egal, ob sie mich hier oder in der Krankenstation gefangen halten. Die Zeit bei den Rebellen hat mich irreparabel zerstört. Ich bin nicht mehr derselbe Mensch und werde es auch nie wieder sein. Fast wünsche ich mir, dass die Legion mir meine Erinnerungen einfach genommen hätte. Es wäre so viel leichter.
    Plötzlich ertönt eine laute Sirene und die Lautsprecher beginnen zu knistern. Besorgt blicken wir alle nach oben. Es folgt ein Räuspern und schließlich ertönt die Stimme eines männlichen Legionsführers:
    „ Es gibt keinen Grund zur Beunruhigung. Unterbrechen Sie Ihre Arbeit und finden Sie sich im Atrium ein.“
    Das gab es noch nie. Ist etwas passiert? Gab es etwa einen Angriff der Rebellen?
    Vor Aufregung würde ich am liebsten losrennen, doch stattdessen reihe ich mich gehorsam in die gebildete Menschenreihe ein und folge den anderen im Gleichschritt in zügigem, aber beherrschtem Tempo in das Atrium. Der Anblick überwältigt mich. Nie zuvor habe ich so viele Menschen in der Sicherheitszone auf einmal gesehen. Alle sind gekommen, selbst die Kleinkinder. Ich wusste zwar, dass wir etwa siebenhundert sein müssen, pro Generation neunundneunzig Menschen, aber ich habe nie alle zusammen gesehen.
    Auf der Treppe zu dem verbotenen Gang haben sich alle zwanzig Legionsführer versammelt. Ihre Mienen sind ernst, doch das hat nichts zu bedeuten. Denn sie sind immer ernst.
    Unter ihnen entdecke ich A350. Bilde ich es mir ein oder hat sie ebenfalls nach mir Ausschau gehalten? Als unsere Blicke sich begegnen, habe ich das Gefühl, eine Art Aufblitzen in ihren Augen zu sehen. So als wolle sie mich ermuntern. Aber warum sollte sie? Sie dürfte mich mit bloßem Auge ja nicht einmal erkennen, immerhin sind wir doch angeblich alle gleich.
    Einer der älteren Legionsführer tritt vor. Ich erinnere mich an ihn von der Klassifizierung. Damals hat er auch die Entscheidung verkündet.
    „ Die Welt liegt im Wandel. Sie verändert sich jeden Tag ein kleines Stückchen mehr. Ob es positive oder negative Entwicklungen sind, liegt zu einem bestimmten Grad in unseren Händen.“
    Er legt eine kurze Gedankenpause ein, um seine Worte wirken zu lassen, bevor er fortfährt: „Nur wenn wir bereit sind, uns gemeinsam mit unserer Umwelt zu entwickeln, haben wir eine Chance zu überleben. Veränderungen passieren nicht von heute auf morgen, sondern in kleinen, berechenbaren Schritten.“
    Sein Blick gleitet über die Menge, die ihm gespannt lauscht. Von welchen Veränderungen spricht er nur? Was ist passiert? Hat es etwas mit den Rebellen zu tun? Obwohl ich mich entschlossen habe, nicht länger ein Teil von ihnen zu sein, spüre ich deutlich, wie mein Herz allein bei dem Gedanken daran, dass ihnen etwas passiert sein könnte, heftig zu pochen und zu schmerzen beginnt. Iris. Finn.
    „ Heute ist der Tag, an dem wir bereit sind, den ersten kleinen Schritt zu gehen. Es ist ein Tag, der in die Geschichte der Legion eingehen wird. Ein Tag, über den wir alle noch lange reden werden. Doch es ist auch ein Tag zur Freude.“
    Wieder hält er inne und ich möchte ihn dafür ohrfeigen. Warum muss er es so verdammt spannend machen? Ein Tag zur Freude der Legion bedeutet selten etwas Gutes für die Rebellen. Haben sie etwa ihr Lager zerstört? Oder sie womöglich alle getötet? Aber warum sollten sie damit heute beginnen? Sie wussten doch immer von ihrer Existenz und haben sie nur angegriffen, wenn die Rebellen sich nicht an die Spielregeln der Legion gehalten haben. Haben sie vielleicht etwas Dummes getan? War es Finn, der nicht länger auf seine kleine Schwester warten wollte?
    „ Wir verkünden heute zum ersten Mal in der noch jungen Geschichte unserer Gemeinschaft einen Klassifizierungswechsel.“
    Während ein aufgeregtes Raunen durch die Menge geht, setzt mein Herz für einen kurzen Moment aus. Kann das sein? Besteht die Möglichkeit, dass sie mich meinen?
    „ Das System macht keine Fehler. Jede Klassifizierung war zu dem Zeitpunkt,