Radioactive (Die Vergessenen) (German Edition)
den Berg hinaufkrochen und dann hinab in das Tal blickten. Natürlich haben wir uns auch damals gestritten. Wir stritten immer. Aber an einen Satz erinnere ich mich noch, als wäre es erst gestern gewesen. Ich kann ihn Finn förmlich aussprechen hören. Es waren Worte, die mich dazu brachten, eine Rebellin sein zu wollen.
„ Vielleicht haben die Menschen irgendwann eine Wahl. Wir wollen, dass sie eine Wahl haben, und da sind wir nicht die Einzigen.“
Damals habe ich ihm geglaubt. Doch wenn ich heute daran denke, wie sie einfach die anderen Gefangenen umgebracht haben, steigt Ärger in mir auf. Haben sie diesen Menschen etwa eine Wahl gelassen? Alles Lügen.
Ich löse meinen Blick von der Weite und schaue mich nach den Legionsführern um. Erst jetzt fällt mir auf, dass sie mich alle beobachten. Nicht offensichtlich, doch aus dem Augenwinkel heraus. In ihren Augen liegt Missbilligung. Während sie bei der Verkündung noch feierlich wirkten, scheinen sie jetzt wie versteinert. Ihre Münder sind schmale Striche und ihre Augen kalt wie Eis. Fast scheint es mir so, als wollten sie mich nicht bei sich haben. Als wäre ich nur ein lästiger Eindringling, der nichts in ihrer Welt zu suchen hat. Aber sie haben mich doch ernannt. Warum hätten sie das tun sollen?
Langsam gleitet der Aufzug in die gläserne Kugel und rastet schließlich vor einem Gang ein. Eilig strömen alle heraus, dabei rammen sie mich mit ihren Schultern oder stoßen mir ihre Ellbogen in den Bauch. Natürlich rein zufällig, doch ein Wort der Entschuldigung fällt nicht ein Mal. Für Entschuldigungen ist in der Welt der Legion kein Platz.
Verunsichert trete ich als Letzte aus dem Aufzug und höre dabei einen kurzen Gesprächsfetzen.
„ Du wolltest sie haben, dann kümmere dich auch um sie.“
Neugierig blicke ich auf und sehe, wie der Legionsführer, der das gesagt hat, davoneilt. Vor dem Aufzug wartet A350 auf mich. Hat er mit ihr gesprochen? Hat sie sich erneut für mich eingesetzt? Warum sollte sie? Doch wieder huscht dieses eigenartige und fremde Lächeln über ihr Gesicht.
„ Willkommen in deinem neuen Zuhause.“
Ich kann nicht anders, als ihr Lächeln zu erwidern.
Unbeirrt fährt sie fort: „Ich nehme an, das alles hier ist nicht so neu für dich, wie es sein sollte. Du kanntest die gläserne Kugel bereits, oder?“
Ich nicke vorsichtig und frage mich erneut, wie viel sie wirklich über meine Zeit bei den Verstoßenen weiß?
„ Dachte ich mir. Komm mit, ich zeig dir deine neue Unterkunft.“
Mit energischem Schritt läuft sie los, sodass mir nichts anderes übrig bleibt, als ihr zu folgen. „Wie geht es jetzt weiter? Was sind meine Aufgaben?“
Mit hochgezogenen Augenbrauen dreht sie sich zu mir um. „So weit sind wir noch lange nicht“, erwidert sie fast belustigt. „Erst einmal musst du in die Geheimnisse der Legion eingeführt werden.“
„ Was für Geheimnisse?“, will ich sofort neugierig wissen. Spricht sie etwa von der Strommauer? Vertrauen sie mir so sehr, dass sie mir sogar die Möglichkeit lassen, diese abzuschalten, wenn ich es nur wollte?
„ Eines nach dem anderen“, wehrt mich A350 kühl ab. Wir halten vor einer Tür.
„ Probiere es aus“, fordert mich A350 auf und deutet auf den Türsensor vor mir. Gespannt lege ich meinen Finger auf die kühle Fläche. Ein rotes Licht fährt über meinen Daumen, bevor das Licht sich grün färbt und die Computerstimme verkündet: „Zugang gewährt.“
Die Tür gleitet auf. Der Anblick, der mich erwartet, verschlägt mir die Sprache. Während die Wand mit der Tür aus Stahl besteht, ist die gegenüberliegende Wand komplett aus Glas. Ich blicke geradewegs in die untergehende Sonne, die die Berge praktisch in Flammen stehen lässt.
Als ich zu A350 blicke, sehe ich, dass sie die Augen geschlossen hält und den Kopf der Sonne entgegenstreckt, so als könne sie durch das Glas ihre wärmenden Strahlen auf ihrer Haut spüren.
„ Warst du je außerhalb der Legion?“, platzt es unerwartet aus mir heraus.
„ Nein“, entgegnet sie, ohne ihre Augen wieder zu öffnen. Dabei wirkt sie vollkommen entspannt.
„ Sehnst du dich nicht danach, die Wärme der Sonne auf der eigenen Haut zu fühlen?“
Jetzt öffnet sie die Augen. „Doch natürlich, aber der Preis dafür ist zu hoch.“
„ Welcher Preis? Die Verstoßenen leben praktisch in der Sonne. Beneidest du sie nicht darum?“, will ich aufgebracht von ihr wissen. Warum versteckt sie sich hinter Glas, wenn sie sich
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