Radioactive (Die Vergessenen) (German Edition)
„Darüber reden wir morgen weiter.“
Ich hätte nicht gedacht, dass sie darauf von sich aus noch einmal zurückkommen würde, umso gespannter bin ich nun auf ihre Antwort. „Du wolltest mir von einem Experiment erzählen?“
A350 lässt ihren Blick über die Monitore gleiten. „Es gab eine Zeit, in der wir selbst Einblicke in die Höhlen der Verstoßenen hatten.“ Gedankenverloren fährt sie mit den Fingern über eine Art Funkgerät. „Wir konnten sogar mit ihnen kommunizieren.“
Verwirrt runzele ich die Stirn. Warum hätten die Rebellen das tun sollen?
A350 bemerkt mein Misstrauen und zuckt mit den Schultern. „Das war jedoch lange vor deiner Zeit, selbst ich habe davon kaum noch etwas mitbekommen. Die Verstoßenen oder die Rebellen, wie du sie wahrscheinlich nennst, waren nicht immer so, wie sie heute sind. Ganz im Gegenteil. Früher waren sie ein Teil der Legion.“
„ Bis sie geflohen sind...“, ergänze ich vorsichtig, doch A350 schüttelt den Kopf.
„ Das haben dir die Verstoßenen vielleicht so erzählt, aber in Wirklichkeit gab es nie eine Flucht.“ Sie schweigt betreten, bevor sie fortfährt. „Vor etwa dreißig Jahren erschuf die Legion die Strommauer. Sie grenzt ein großes Gebiet von der Außenwelt ab und bildet eine Art Kuppel über dem gesamten Gelände. Zu dieser Zeit war ein Leben außerhalb der Sicherheitszone noch unvorstellbar, doch innerhalb der Kuppel begann die Legion, die Luft zu filtern. Sie nahmen sowohl Boden- als auch Wasserproben. Als die Werte stabil waren, begannen sie, die ersten Pflanzen zu setzen und danach die ersten Tiere durch Züchtung wieder auszuwildern. Das Ganze hat etwa zehn Jahre gedauert und war immer das Geheimnis der Legionsführer. Niemand wollte den Menschen zu früh Hoffnung auf ein Leben außerhalb der Sicherheitszone machen.“
„ Was ist mit der Luft und dem Boden außerhalb der Kuppel? Sind sie nach wie vor radioaktiv verseucht?“
A350 zuckt nur mit den Schultern. „Das wissen wir nicht.“
Ich kann ihr das nicht glauben. Die Legion würde doch niemals im Ungewissen darüber bleiben. „Warum habt ihr es nie überprüft?“
„ Weil es keinen Grund gab, weiter an eine Aussiedlung der Menschen zu denken. Denn selbst die Kuppel war ein Fehler.“
Ich habe das Gefühl, dass sie in diesem Punkt nicht ehrlich zu mir ist und etwas verheimlicht. „Warum?“, will ich deshalb verständnislos von ihr wissen.
„ Dazu kommen wir jetzt“, erklärt sie geduldig. „Nachdem die Pflanzen und Tiere sich erfolgreich in der neuen Umwelt eingliederten, meldeten sich fünf Legionsführer freiwillig für den Auszug ins freie Land. Zwei von ihnen kennst du sogar, A175 und A176.“
Sofort sehe ich die beiden liebevollen Gesichter von Marie und Gustav vor meinen Augen. Ich kann ihre faltigen, aber warmen Hände förmlich auf meinen Wangen fühlen. Sie waren von Anfang an herzlich zu mir und hatten oft mehr Verständnis für mich als irgendjemand sonst. Vor allem Marie strahlte eine innere Wärme aus, in deren Nähe man sich einfach geborgen fühlen musste. Doch von alldem sage ich zu A350 nichts, sondern nicke nur mit dem Kopf.
„ Sie organisierten zusammen mit drei anderen den Auszug aus der Legion und die Einrichtung eines Lagers in den Höhlen. Dafür nahmen sie den ganzen Schrott der alten Erde mit sich, den wir als Antiquitäten gelagert hatten. Egal ob es nun um Matratzen, Kleidung oder Möbel ging. Sogar die alten Autos mit den Benzintanks ließen sie sich vor die Höhlen karren. Sie wollten damals alles der alten Erde so ähnlich wie möglich gestalten, obwohl zu der Zeit kaum noch jemand lebte, der eigene Erinnerungen an die Welt vor dem dritten Weltkrieg hatte.“
Ich hatte mir zuvor nie Gedanken darüber gemacht, woher die Rebellen ihre ganzen Vorräte hatten. Und ich wette, viele der anderen haben darüber genauso wenig nachgedacht. Was würde Finn wohl dazu sagen, wenn er wüsste, dass die Matratze, auf der er jede Nacht schläft, eigentlich Eigentum der Legion ist?
„ Nachdem sie alles eingerichtet hatten, wählten sie aus der Sicherheitszone Menschen unterschiedlicher Altersklassen aus, die sie bei dem Experiment begleiten sollten. Am Anfang waren die Menschen überfordert mit der Situation, aber sie nahmen ihre neuen Aufgaben schnell an. Hauptsächlich beschäftigten sie sich mit der Feldarbeit. Während die Legionsführer des Experiments anfangs noch täglich Kontakt zur Legion hielten, wurde es mit der Zeit immer weniger. Sie
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