Radioactive (Die Vergessenen) (German Edition)
und einen zielstrebigen Gang versuche ich, mir nicht anmerken zu lassen, dass ich im Grunde gar nicht weiß, wo lang ich gehen muss. Bei jeder Kreuzung halte ich mich einfach immer links. Links schlägt das Herz. Vielleicht wird es mich so zu der richtigen Zelle führen.
Erst als ich zum dritten Mal an dem Einsatzraum der Ärzte vorbeikomme und erneut ihre neugierigen Blicke auf mir spüre, beschließe ich, den rechten Gang zu wählen. Er führt mich jedoch direkt zur nächsten Kreuzung. Ich habe die Wahl zwischen einem linken Gang, der aussieht wie alle anderen: steril weiß mit grellen Deckenleuchten und quietschendem, grauen Boden; oder rechts: ein Gang, der aussieht, als würde er nur selten benutzt werden. Hier flackern die Leuchtplatten leicht und über den Boden ziehen sich schwarze Striemen, die von den Rollen eines Krankenbettes oder eines Rollstuhls herrühren könnten. Doch niemand scheint sich die Mühe gemacht zu haben, sie in sorgfältiger Arbeit wegzuschrubben. Die Frau, die ich besuchen will, bekommt keinen Besuch. Sie wird weder verhört noch behandelt. Sie wartet jeden Tag ihres restlichen Lebens auf den Tod.
Ich entscheide mich für den rechten Korridor und setze vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Ich habe das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, obwohl es mir als Legionsführerin erlaubt ist, jeden Gang der Legion zu betreten und mit jedem Bewohner der Sicherheitszone zu sprechen.
Hinter der nächsten Ecke leuchtet nur noch jede dritte Deckenleuchte. Offensichtlich spart die Legion an dieser Stelle unsere kostbare Sonnenenergie. Doch am Ende des Gangs befindet sich eine Tür oder besser gesagt eine Art Schleuse, gesichert durch einen Sensor. Es stehen keine Wachen davor, jedoch fühle ich mich dadurch nicht so erleichtert, wie ich es eigentlich erwartet hätte, sondern ich spüre Sorgen in mir aufsteigen. Vielleicht ist diese Frau gefährlicher, als ich es annehme. Vielleicht hat sie den Verstand verloren und ist nicht mehr zurechnungsfähig. Die Legion hält sie sicher nicht ohne Grund abseits von allen anderen gefangen.
Trotzdem lege ich meinen Daumen auf den Scanner, der die Tür verschließt. Es dauert ein paar Sekunden, doch dann erscheint das grüne Licht und die Computerstimme verkündet „Zugang gewährt“.
Direkt hinter den beiden Stahltüren befindet sich eine weitere Tür aus grauem Metall. An dieser Stelle gibt es keinen Scanner, sondern nur ein Tastenfeld. Offenbar lässt sich diese Tür nur durch einen Code öffnen, den ich nicht kenne.
Versuchshalber tippe ich ‚318’ ein, die Bezeichnung der Bewohnerin, doch sofort leuchtet ein rotes Licht auf und der Computer verkündet blechern: „Zugriff verweigert.“
Frustriert blicke ich mich in dem winzigen Vorraum um und sehe eine Art Fenster an der Tür, das durch eine Klappe geschlossen ist. Neugierig schiebe ich die Klappe zur Seite und weiche erschrocken zurück, als mir direkt hinter dem Glas ein hellblaues Augenpaar entgegenstarrt. Ich taumele ein paar Schritte rückwärts und fasse mir an die Brust, hinter der mein Herz panisch hämmert. Die fremden Augen fixieren mich wie ein Adler, der über einem Feld voller Mäuse kreist. Doch so fremd sind mir die Augen nicht einmal. Es ist diese kalte Blau, das fast ins Grau übergeht und mich immer an Schnee erinnert hat, obwohl ich Schnee nur aus den Aufnahmen des Atriums kenne. Es ist dieselbe Farbe, wie Finns Augen sie getragen haben, bevor ihnen von der Legion das standardisierte Lichtblau aufgezwängt wurde.
Langsam beruhigt sich mein Herzschlag wieder und ich trete langsam einen Schritt in Richtung des kleinen Fensters in der Tür. Das Augenpaar dahinter zuckt zurück und ich kann nun das gesamte Gesicht der Frau erkennen. Falten liegen rund um ihre Augen und ihren schmalen Mund. Das Haar steht ihr zu allen Seiten vom Kopf ab. In ihrem Gesicht befinden sich rote Muster, wie mit Farbe gemalt. Doch ich befürchte, dass es ihr eigenes Blut ist. Zugegeben, die Frau wirkt alles andere als vertrauenerweckend, aber ich weiß nicht, wie ich aussehen würde, wenn man mich seit Monaten hier ohne jeden menschlichen Kontakt gefangen halten würde. Wahrscheinlich weiß sie nicht einmal, ob es Tag oder Nacht ist oder wie viele Tage, Wochen und Monate sie nun schon in der einsamen Zelle verbringt.
„ Hallo, ich bin Cleo“, stelle ich mich ihr vorsichtig vor. Sie legt ihren Kopf schief und scheint über meine Worte nachzudenken, sofern sie sie überhaupt verstanden hat. Doch dann
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