Radioactive -Die Verstossenen
schluckt, während ihre Augen glücklich strahlen.
„Kommst du endlich oder willst du sie auch noch füttern?“, knurrt es hinter der Eisentür hervor. Es ist wieder SEINE Stimme. Es liegt so viel Hass und Verachtung darin, dass ich sie jederzeit wiedererkennen würde. Die Kälte lässt mich trotz der warmen Temperaturen frösteln. Habe ich mir die Traurigkeit vielleicht nur eingebildet?
Der Mann vor mir steht auf und nickt mir aufmunternd zu, bevor er die Zelle hinter sich verschließt.
„Nimm dir auch ein Stück, es ist besser als alles, was du je gegessen hast.“, versucht mich F701 zu überreden, während sie ihre Backen immer weiter mit dem Brot stopft.
Misstrauisch beobachte ich sie dabei. Sie ist ein Kleinkind, vielleicht acht Jahre alt, in dieser Zeit lügen Menschen nur selten. Und warum sollte sie auch?
„Du weißt nicht , was es ist. Vielleicht ist es gefährlich.“, kontert D276 skeptisch.
„Es schmeckt sogar besser als die pinken Tabletten.“, behauptet F701 mit vollem Mund. Ich weiß , wie sehr sie die Pinken mochte. Meine Hände fahren über die feste Kruste des Brotes. Unter meinen Fingerspitzen spüre ich die feinen Rillen und die langsam weichende Wärme. Wenn ich etwas drücke, gibt das Brot nach.
„Vielleicht töten sie uns damit. Vielleicht ist es vergiftet.“, warnt mich D276 erneut.
„Na und? Wir sterben doch sowieso an der Radioaktivität.“, faucht nun F701 wütend zurück. Ihre Lautstärke überrascht mich. Wir sind es nicht gewohnt , die Stimme gegeneinander zu erheben. Das bedeutet Unruhe und Unruhe ist ein Vorbote von Krieg.
„Lieber sterbe ich mit vollem Bauch als an Hunger.“, fügt sie nun noch trotzig hinzu. Sie beeindruckt mich. Einerseits glaube ich, dass das kleine Mädchen wirklich verrückt sein muss und auf der Krankenstation am besten aufgehoben gewesen wäre. Doch andererseits erinnert sie mich an D523: Beide sind voller Leben und ihre Reaktionen unberechenbar, jedes Mal für eine Überraschung gut.
Ich reiße mir ein winziges Stück von dem Brot ab und stecke es mir in den Mund, bevor ich es mir noch anders überlegen kann. Die Wärme breitet sich über meine Zunge und meinen Gaumen aus. Fast scheint es mir , als würde sie sich in meinem ganzen Körper verteilen. Ich schließe meine Augen und genieße den Geschmack auf meiner Zunge. Es schmeckt nur im Entferntesten wie der Cerealienwürfel. Viel intensiver und viel voller. Meine Zähne beißen auf dem Brot herum, sodass es sich in meinem Mund verteilt. Es füllt ihn vollkommen aus. Als ich schlucke , gleitet es problemlos meine Speiseröhre hinab. Es ist weich und nicht so hart wie die Tabletten und Kapseln. Man braucht kein Wasser, um nachspülen zu können. Trotzdem nehme ich auch davon einen großen Schluck. Selbst das Wasser schmeckt hier anders. Es ist kühl und irgendwie frischer.
Ich biete den anderen mehrmals sowohl vom Wasser als auch dem Brot an, doch als sie sich wiederholt weigern, essen F701 und ich alles alleine auf. Wir könnten ewig weiter essen und trinken. Als wir fertig sind, fühlen sich unsere Bäuche zum Platzen gefüllt an.
Ein Seufzen dringt aus F701s Kehle. Sie legt ihren Kopf an meine Schulter und schläft ein. Ich beneide sie darum, denn ich habe die ganze Nacht kein Auge zu bekommen und auch jetzt fühle ich mich dazu nicht in der Lage. Zu viele Fragen und Ängste kreisen durch meinen Kopf. Gedankenverloren beginnen meine Hände über den Kopf von F701 zu streichen. Sie ist etwas Besonderes. Obwohl sie noch so klein ist, würde sie mir hier am meisten fehlen. Vielleicht liegt es an meiner Fehlfunktion. Ich hätte das Brot nicht essen dürfen.
Als sich das nächste Mal die Tür öffnet, fährt F701 erschrocken hoch. Sie wirkt verwirrt und lenkt mich für einen Moment ab, bevor mein Blick zurück zu der Tür gleitet. Ich halte den Atem an und betrachte ungläubig das fremde Gesicht. Er ist jung, vielleicht meine Generation, doch zwischen seinen Augen bilden sich tiefe Falten, die ihm einen ständig wütenden Ausdruck verleihen. Seine Augen sind blau, doch ganz anders als unsere. Sie schimmern mal heller mal dunkler, je nachdem , wie das Licht darauf fällt. Trotz seiner Wut wirkt alles an ihm lebendig und wild. So auch seine Haare, sie schimmern wie Gold und legen sich in unkontrollierten Wellen um seinen Kopf.
„Wo ist D523?“, blafft er uns eisig entgegen. Ich schlucke und erinnere mich daran , wie ich ihren Platz eingenommen habe. Sie sollte hier sein, nicht ich.
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