Rächende Geister
glaube ich. Und da es besser ist zu sterben, als dauernd in Furcht zu leben, will ich die Furcht überwinden.«
Lächelnd stand sie auf.
Hori erhob sich ebenfalls.
»Deine Worte zeigen den Mut, den ich immer bei dir gespürt habe. Schau, Renisenb, dies ist Ägypten, unsere Heimat, die der Krieg für lange Jahre in kleine Königreiche zerstückelt hat. Aber bald wird es ein geeintes Land sein… Ober- und Unterägypten in ein Reich verschmolzen, das seine frühere Größe erlangt, wie ich hoffe und glaube! Dann wird Ägypten tapfere Männer und Frauen brauchen – Frauen wie dich, Renisenb, nicht Männer wie Imhotep, die stets mit ihren eigenen kleinen Gewinnen und Verlusten beschäftigt sind, auch nicht faule und prahlerische Männer wie Sobek oder Jünglinge wie Ipy, die nur daran denken, was sie für sich selbst ergattern können, nein, auch keine gewissenhaften, braven Söhne wie Yahmose. Verstehst du, was ich meine, Renisenb?«
»Ich glaube, ein wenig. Du bist anders als die Menschen dort unten, das weiß ich seit einiger Zeit. Wenn ich hier oben bin, dann scheinen mir die Dinge dort unten«, sie wies hinab, »keine Bedeutung mehr zu haben. All die Zwiste, der Hass und das unaufhörliche Getriebe. Hier ist man fern von all dem. Manchmal bin ich froh, hierher flüchten zu können. Und doch… ich weiß nicht… da unten ist etwas, das mich zurückruft.«
Hori ließ ihre Hand los und trat einen Schritt zurück. Dann sagte er freundlich: »Ja, ich verstehe – Kameni, der im Hof singt.«
»Ich dachte nicht an Kameni.«
»Du hast vielleicht nicht an ihn gedacht. Aber trotzdem glaube ich, Renisenb, dass du seine Lieder hörst, ohne es zu wissen.«
Sie sah ihn mit gerunzelten Brauen an.
»Was für sonderbare Dinge du sagst, Hori. Hier oben kann man ihn doch gar nicht singen hören. Er ist viel zu weit entfernt.«
Hori seufzte leise und schüttelte den Kopf.
Die Belustigung, die sich in seinen Augen spiegelte, verwirrte sie. Sie war ein wenig ärgerlich, weil sie nicht verstand, was er meinte.
13
Erster Monat des Sommers – 23. Tag
» K ann ich mit dir sprechen, Esa?«
Esa blickte zum Eingang des Zimmers hinüber, wo Henet mit einschmeichelndem Lächeln stand.
»Was gibt’s?«, fragte die Alte scharf.
»Nichts Besonderes, aber ich hielt es für besser…«
Esa unterbrach sie kurz angebunden: »Komm herein. Und du…«, sie klopfte der kleinen schwarzen Sklavin, die Perlen aufreihte, mit ihrem Stock auf die Schulter, »geh in die Küche. Hol mir ein paar Oliven, und mach mir Granatapfelsaft.«
Das Mädchen eilte davon, und Esa winkte Henet ungeduldig herbei.
»Es ist nur dies, Esa.«
Esa betrachtete den Gegenstand, den Henet ihr hinhielt. Es war ein Schmuckkästchen mit Schiebedeckel, auf dem zwei Knöpfe befestigt waren.
»Was ist damit?«
»Es gehörte Nofret, und ich habe es jetzt gefunden – in ihrem Zimmer.«
»Und?«
»All ihre Juwelen, ihre Salbendosen und Parfümkrüge, alle Dinge sind mit ihr begraben worden.«
Esa band die Schnur von den Knöpfen los und schob den Deckel zurück. Das Kästchen enthielt eine Kette aus kleinen Karneolperlen und die Hälfte eines grünglasierten Amuletts.
»Es ist wohl übersehen worden«, meinte Esa.
»Die Einbalsamierer haben alles fortgenommen.«
»Einbalsamierer sind nicht zuverlässiger als andere Menschen.«
»Ich sage dir, Esa, dies war nicht im Zimmer, als ich das letzte Mal hineinschaute.«
Esa schaute Henet scharf an.
»Worauf willst du hinaus? Dass Nofret aus der Unterwelt zurückgekehrt ist und sich hier im Hause aufhält? Du bist nicht so dumm, wie du dich manchmal stellst, Henet. Was hast du davon, wenn du solch törichte Zaubergeschichten verbreitest?«
Henet schüttelte nachdrücklich den Kopf.
»Wir wissen alle, was Satipy widerfahren ist – und warum!«
»Vielleicht wussten es einige von uns sogar schon früher. Wie, Henet? Ich hatte immer das Gefühl, dass du mehr über Nofrets Tod weißt als wir Übrigen.«
»O Esa, du glaubst doch wohl nicht…«
»Was soll ich nicht glauben?«, fiel Esa ein. »Ich habe Satipy in den beiden letzten Monaten zu Tode erschrocken im Hause herumschleichen sehen, und gestern ist mir eingefallen, dass jemand sie mit seinem Wissen in Angst gehalten haben könnte – ihr vielleicht gedroht hat, Yahmose oder gar Imhotep alles zu verraten…«
Henet widersprach in schrillem Ton.
Esa schloss die Augen und lehnte sich zurück.
»Ich bin überzeugt, dass du es niemals zugeben
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